Andrea Wegener
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Andrea Wegener auf der griechischen Insel Lesbos im Warenlager mit einem der Kleiderpäckchen.
Windeln als kleines Glück
Seit knapp einem Jahr arbeitet Andrea Wegener von Campus für Christus auf der griechischen Insel Lesbos im berüchtigten Flüchtlingslager Moria. Im Interview schildert sie ihre Erlebnisse und wie ihr der Glaube hilft, das Erlebte zu verarbeiten.

Warum ist das Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos aus den Nachrichten verschwunden? Hat sich die Situation endlich gebessert?

Andrea Wegener: Ich glaube, die Medien sind einfach müde geworden, darüber zu berichten. Es passiert nichts Neues, sondern nur das gleiche Schreckliche immer weiter. Ich glaube, die Leute haben das einfach vergessen. Wenn ich in Deutschland bin, werde ich immer wieder gefragt: Wie, da kommen noch Leute an? Die denken, die Geflüchteten hier sind 2016 gekommen und hängen jetzt hier rum.

Andrea Wegener

Andrea Wegener arbeitet für die überkonfessionelle Missionsbewegung Campus für Christus. Seit November 2018 ist sie für die griechische Hilfsorganisation Euro Relief im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos tätig. Über ihre Erlebnisse hat sie ein Buch geschrieben: „Wo die Welt schreit“ (Fontis Verlag). 

Das heißt, es kommen nach wie vor täglich Flüchtlinge auf Lesbos an?

Wegener: Ja. Im Juli hatten wir so viele Neuankömmlinge wie seit 2015 nicht mehr. Über 2.300 Menschen sind allein im Juli auf Lesbos angekommen. Im Frühjahr war es ein bisschen ruhiger. Aber dadurch, dass in der Türkei Gerüchte umgehen, dass Syrer mit Bussen zurück nach Syrien gebracht und ausgesetzt werden, haben wir den Eindruck, dass mehr Menschen kommen. Immer, wenn sich in der Türkei etwas bewegt, wirkt sich das unmittelbar auf unsere Situation in Moria aus.

Gerüchte reichen aus, damit Menschen die gefährliche Überfahrt auf sich nehmen?

Wegener: Es hängt natürlich auch mit der Ausgangslage in den Herkunftsländern zusammen. Ich lese Zeitungen mittlerweile anders. Wenn ich lese: Trump verhandelt mit den Taliban, ahne ich, dass es neue Bewegungen nach Moria geben wird. Wir sind hier sehr nah am Weltgeschehen. So drei, vier Wochen verzögert, kommen die Leute dann bei uns an.

Einblick in Moria im September 2018: Menschen gehen einen Weg im Flüchtlingslager entlang.

Wie ist die Situation im Lager Moria zurzeit?

Wegener: Momentan sind mehr als 10.000 Menschen im Lager. Es ist absolut überfüllt. Das Camp hat Platz für 1.300 Leute im Normalzustand, und im Katastrophenzustand 3.100. Das heißt, wir sind dreifach überbelegt. Wenn wir die Leute im Camp unterbringen, versuchen wir schon, dass sie ein Zelt bekommen. Aber wir haben im Moment noch 800 Neuankömmlinge, denen wir noch kein Dach über dem Kopf verschaffen konnten. Die schlafen teilweise einfach auf Pappdeckeln am Wegrand.

Wie ist die Stimmung in der ortsansässigen Bevölkerung?

Wegener: Vielleicht rede ich nicht mit den richtigen Leuten, aber ich habe den Eindruck, es funktioniert erstaunlich gut. Ich bewundere die Griechen sehr, die das hier, ohne dass sie gefragt worden sind, mit viel Fassung ertragen. An manchen Stellen schafft die Situation auch Jobs vor Ort. Leute müssen übersetzen und auch die Mietwagenfirmen machen guten Umsatz. Aber klar, insgesamt ist das nicht schön. Der Tourismus liegt völlig am Boden.

Andrea Wegener beim Zeltaufbau im Lager.

Warum hat sich in den vergangenen Jahren so wenig geändert?

Wegener: Im Camp hat sich vieles zum Guten geändert. Wir haben Solarlichter bekommen, wir haben größere Zelte. Die Klos werden öfter gesäubert, die Mülleimer werden geleert. An solchen Stellen merken wir schon, dass es nicht mehr ganz so unerträglich ist. Andererseits habe ich den Eindruck, dass man versucht, die Krise auszusitzen. Die europäischen Regierungen scheinen zu denken: Wenn wir jetzt gar nichts unternehmen, dann verschwindet das Problem einfach. Das ist natürlich Wunschdenken.

Was wird am dringendsten benötigt?

Wegener: Wir brauchen Kleidung für die Neuankömmlinge. Die kommen teilweise ganz ohne Sachen, weil sie ihr Hab und Gut über Bord geworfen haben, wenn das Boot anfing zu kentern. Was aber am meisten fehlt, ist Platz und medizinische sowie psychologische Betreuung.

"Ich merke, dass ich zuhause meine Brücken abbreche"

Weshalb sind Sie nach Lesbos gegangen?

Wegener: Ich habe mehrere Jahre in meinem Missionswerk Campus für Christus im Büro gesessen und bei meinen Auslandseinsätzen immer gemerkt: Da lebe ich am meisten. Das ist so real. Da ist man an dem dran – so heißt ja auch mein Buch – „wo die Welt schreit“. Da, wo wirklich Nöte herrschen.

Für wen genau arbeiten Sie?

Wegener: Es ist eine Dreierkonstruktion: Ich bin eigentlich angestellt bei Campus für Christus. Das ist ein weltweites Werk und unser Partner in der humanitären Hilfe heißt GAiN, Global Aid Network. Ich bin von Campus zu GAiN ausgesandt und GAiN hat mich zu EuroRelief ausgesandt. Das ist eine griechische Hilfsorganisation, die im Moment vor allem auf Lesbos aktiv ist. Wir sind zum Beispiel zuständig für den Bereich der Neuankömmlinge. Wir geben dort die Kleiderpakete aus. Und wir sind für die Zuteilung der Unterkünfte verantwortlich. Wir haben einen Infopoint und verteilen zwischendurch Kleidung, zum Beispiel Jacken im Winter oder Flipflops im Sommer. Unsere Aufgabe ist es, die Verhältnisse im Camp Stückchen für Stückchen erträglicher zu machen.

Wie lange bleiben Sie vor Ort?

Wegener: Ursprünglich war der Plan von November 2018 bis Oktober 2019 zu bleiben. Das wäre bald zu Ende. Ich habe bis Mai 2020 verlängert und ich merke, dass ich zuhause meine Brücken abbreche. Ich habe etwa meine untervermietete Wohnung aufgegeben. Es kann auch sein, dass ich hier dauerhaft bleiben werde. Das kommt auch darauf an, wie sich die Situation entwickelt und welche Aufgaben ich übernehmen kann.

Sie schreiben einen Blog und haben auch ein Buch geschrieben. Worum geht es darin?

Wegener: Das Buch ist aus meinen Blogeinträgen entstanden. Ich habe Tagebuch geführt, um mir alles von der Seele zu schreiben und weil es meine Freunde zuhause interessiert hat. Dann habe ich mich gefragt: Interessiert das vielleicht auch andere Leute? Wer mein Buch liest, kann die Situation in Moria aus den Augen einer deutschen Helferin sehen.

Was machen die Erlebnisse auf Lesbos mit Ihrem Glauben?

Wegener: Es gab eine Situation, als ich im Gottesdienst saß und ich war echt fertig von der Woche und wollte nur meine Ruhe haben. Dann saß ich plötzlich zwischen müffelnden Bewohnern des Flüchtlingscamps Moria und dachte: Och nee, nicht schon wieder. Aber dann merkte ich: Die singen ja die gleichen Lieder und beten den gleichen Gott an, das sind meine Brüder und Schwestern. Ich kann nicht einfach denken, ich bin die tolle Helferin und ihr seid die müffelnden Moria-Flüchtlinge. In dem Moment seid ihr vor allem meine Brüder und Schwestern und ich hab euch lieb. Das fand ich ermutigend.

Hat ihr Glaube Sie in Ihrer Arbeit bestärkt oder hadern Sie nach Ihren Erlebnissen?

Wegener: Es hat mich eher bestärkt. Ich bin ohnehin nicht so furchtbar sensibel. Es hilft, dass ich mir manche Sachen nicht so arg zu Herzen nehme. Ich hatte auch vorher nicht das Bild, dass die Welt ein supertoller Ort ist, wo alle lieb zueinander sind. Trotzdem stelle ich mir die Fragen: Was ist meine Aufgabe hier? Gucke ich weg? Oder finde ich eine Möglichkeit, ein kleines bisschen Linderung zu verschaffen? Ich kann diese Unruhe und Unzufriedenheit mit dem, was ich hier sehe, an vielen Stellen in praktisches Handeln umsetzen.

Sind Sie manchmal frustriert?

Wegener: Ja. Zum Beispiel, dass unsere Arbeit nie genug ist. Und dass wir hier ausbaden, dass es europaweit offenbar keine klaren Linien für Flüchtlinge gibt. Ganz viele Menschen kommen hier an, weil sie denken: Es wird vielleicht doch noch ein Schlupfloch geben, um nach Deutschland zu kommen. Und wir sagen ihnen immer: Nein, das wird nicht klappen. Aber dann hören wir Geschichten von Leuten, die sich doch irgendwie nach Deutschland durchgeschlagen haben. In meinem Buch schreibe ich über einen Flüchtling, der von Griechenland mit einem gefälschten estnischen Pass über Polen gegangen und dann in Braunschweig gelandet ist. Er absolviert dort eine Ausbildung. Das ist ein ganz toller Typ, ich bin froh für Deutschland, dass er da ist. Aber ich merke auch: Das widerspricht allen Regeln. Und so lange das so unklar ist und die Geflüchteten nur illegal kommen können, obwohl sie eigentlich ein Recht auf Asyl hätten, ist die Situation einfach blöd.

"Da ist eine Verbindung, einfach nur, weil man diesen Weg miteinander gegangen ist"

Erleben Sie auch hoffnungsvolle, fröhliche Momente?

Wegener: Wenn Leute in bessere Camps verlegt werden, ist das schon so ein Moment, wo sich viele sehr freuen. Und manchmal kann man Leuten wirklich helfen. Ich hab zum Beispiel öfter bei der Windelausgabe mitgemacht. Die werden dringend benötigt und viele können sich keine Windeln leisten. Und wenn sie schon eine Weile im Lager leben und wissen, wie schlimm es sein kann, sind viele auch dankbar, wenn sie aus einem 16m²-Zelt, wo sie mit 18 Leuten lebten, in einen 18m²-Container verlegt werden, wo sie dann „nur“ mit 15 anderen wohnen müssen. Das sind die Dimensionen, in denen es sich bewegt.

Wenn man als Helferin so lange vor Ort ist, entwickelt man auch persönliche Beziehungen zu Geflüchteten?

Wegener: Ich glaube, das ist je nach Aufgabe sehr unterschiedlich. Für mich hat sich das fast gar nicht ergeben, weil ich viel in meinem Warenlager außerhalb war und nur ab und zu einen Tag im Camp ganz praktisch angepackt habe beim Verteilen von Dingen. Aber es gibt Leute, die im New Arrivals-Bereich mehrere Monate mithelfen. Die bauen schon Beziehungen auf. Die haben aber auch ganz andere Aufgaben als ich. Das sind auch Leute, die ganz bewusst auch die persönliche Beziehung suchen und die dafür auch geeignet sind. Das wäre für mich gar nicht die beste Aufgabe. Ich bin besser im Organisieren. Stundenlang mit minderjährigen Jungs „Uno“ spielen ist nicht so ganz meine Vorstellung von effektiver Hilfeleistung, aber das ist natürlich auch wichtig.

Was war der eindrücklichste Moment für Sie?

Wegener: Einmal kamen zwei Frauen von der Essensausgabe mit schweren Sixpacks mit 1,5-Liter-Flaschen bepackt. Eine war hochschwanger, die andere schon ein bisschen älter. Die schleppten echt schwer an den vielen Flaschen. Ich hab dann jeder einen Sixpack abgenommen und bin mit ihnen den Hang hoch gelaufen. Wir konnten nicht miteinander sprechen, aber wir haben die ganze Zeit gelächelt und uns nette Sachen in unseren Sprachen gesagt. Zum Schluss haben wir uns in den Arm genommen. Man merkt plötzlich: Da ist eine Verbindung, einfach nur, weil man diesen Weg miteinander gegangen ist und weil ich ihnen etwas Kleines abgenommen habe.

Dieses Interview erschien erstmals am 30. August auf evangelisch.de.