Herr Moritz, es gibt bereits Wege für arbeitssuchende Menschen, um ganz legal in die EU zu gelangen. Darunter sind die "Blue Card" für hoch qualifizierte Beschäftigte und die Aufenthaltserlaubnis im Rahmen der Saisonarbeiter-Richtlinie. Wo ist das Problem?
Torsten Moritz: Außer für diese beiden Gruppen gibt es kaum EU-Gesetze und nur teilweise nationale Regelungen. Die Saisonarbeiter-Richtlinie wird außerdem oft umgangen, weil die Arbeitgeber bei Saisonarbeit die Ausländer ausbeuten, um konkurrenzfähig zu bleiben. Und die "Blue Card" gewährt zwar vernünftige Standards und Mechanismen, um Leute ins Arbeitsleben in Europa reinzuholen. Aber die für sie nötigen Qualifikationen und Gehälter sind zu hoch. Mit der "Blue Card" können wir zwar den Computerexperten und die Ingenieurin nach Europa holen, aber nicht die dringend benötigte Krankenschwester.
Sollten alle Menschen, die in Europa Arbeit suchen, kommen dürfen?
Moritz: Im Prinzip nein. Jeder EU-Staat darf die Zahl der Arbeitsmigranten für sein Territorium begrenzen, und das sollte auch so bleiben. Das ist etwas anderes als bei Flüchtlingen und Asylsuchenden, für die es keine Begrenzung der Zahl geben darf. Zugleich hat die EU ein Bedürfnis an neuen Arbeitskräften etwa im Gesundheitsbereich, der Gastronomie, der Landwirtschaft, auf dem Bau und allgemein bei Dienstleistungen. Hier könnte man sowohl mit Migrationsquoten arbeiten als auch mit zeitlich begrenzten Visa zur Arbeitssuche. Leider fehlt dazu auf EU-Ebene derzeit der Mut.
Viele Politiker sehen die pragmatische Notwendigkeit von Migration""
Was also sollte die kommende EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen ändern?
Moritz: Die EU muss sich erst einmal ehrlich machen. Viele Politiker sehen die pragmatische Notwendigkeit von Migration. Aber Maßnahmen werden durch den hochideologischen Diskurs rund um Flüchtlinge blockiert. Um die unmittelbare Bedrohungsempfindung rauszunehmen, sollte die neue Kommissionschefin eine mittel- und langfristige Perspektive einnehmen und fragen: Was brauchen wir in zehn Jahren an Migration? Wie kann das für die Menschen, die kommen, korrekt ablaufen?
Soll die EU dann erst für 2030 neue Maßnahmen vorschlagen?
Moritz: Nein. Für ein umfassendes Gesetz zur legalen Arbeitsmigration gibt es derzeit keine politische Chance. Aber man kann jetzt schon viel tun, wo die EU einen Mehrwert gegenüber den Mitgliedstaaten darstellt. Ein einfaches Beispiel: Die EU könnte in Entwicklungsländern gemeinsame Anlaufstellen für Arbeitsmigranten anbieten, um sie nach Europa zu vermitteln. Denn viele Menschen wollen nicht in ein spezielles Mitgliedsland, sie wollen nach Europa.
"Sie sollen sich willkommen fühlen"
Sollen Migranten nur kommen dürfen, wenn sie später wieder in ihre Heimat zurückkehren - Stichwort "zirkuläre Migration"?
Moritz: Nein. Ein Merkmal der "Blue Card" ist, dass sie den Menschen eine dauerhafte Bleibeperspektive in der EU gibt. Sie sollen sich willkommen fühlen. Das ist nicht nur vom Menschenrechtlichen her wichtig, sondern auch, weil Europa international im Wettbewerb um Arbeitskräfte ist. Schlechte Arbeits- und Aufenthaltsbedingungen kann eine Krankenschwester auch in arabischen Ländern finden. Davon abgesehen sollten wir Migranten nach einer gewissen Zeit ein Rückkehrrecht nach Europa zugestehen.
Was bedeutet "Rückkehrrecht nach Europa"?
Moritz: Das heißt, wenn sie hier zum Beispiel nach einigen Jahren legalen Aufenthalts ihren Job verlieren und in die Heimat zurückkehren, dürfen sie später wieder nach Europa einreisen. Das führt dazu, dass Leute sich sagen "Da probiere ich Zuhause aus". Wir haben das EU-intern im Zuge der Süd- und Osterweiterungen gesehen: Bis in die 1980er Jahre kamen viele Spanier und Portugiesen in den Norden, dann später viele Polen in den Westen. Aber als sich nach dem jeweiligen EU-Beitritt festgesetzt hatte, dass die Freizügigkeit für sie erhalten bleibt, sind viele zurückgegangen. Das könnte man auch mit Afrika versuchen. Man kann ja mit bestimmten Berufsgruppen oder Herkunftsländern anfangen.
Ist Migration für die Herkunftsländer überhaupt immer gut?
Moritz: Das ist sehr verschieden. Auf den Philippinen werden zum Beispiel Krankenschwestern gezielt für den internationalen Markt ausgebildet. Aber wenn in Simbabwe Ärzte abgeworben werden, wo es ohnehin schon zu wenige gibt, ist das ein großes Problem. In einem anderen Entwicklungsland mag es zwar viele Mediziner geben, aber das Gesundheitssystem kann sie nicht alle beschäftigen. Wenn diese Leute nach Europa gehen, kann man zwar einen "Brain Drain" beklagen, also die Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte. Aber für sie gibt es gar keine Alternative.
Ist der "Brain Drain" das einzige Problem legaler Migration für die Herkunftsländer?
Moritz: Aus Afrika hören wir immer den Gedanken des Verlustes, den Migration bedeutet. Oft gehen nicht die Ärmsten, sondern die, die schon ein bisschen Geld haben. Das ist also ein Wirtschaftsfaktor. Zugleich gehen die Mutter, der Onkel, die Tante weg. In Moldawien gibt es den Begriff der "EU-Waisen", wenn die Eltern in der EU arbeiten. Migration kann also zu familiärer und bei großen Zahlen auch zu sozialer Destabilisierung in den Herkunftsländern führen.