"Was habe ich falsch gemacht?" Diese Frage stellen viele Eltern, nachdem sich ihr Kind geoutet hat. Gudrun Held, Diakonin im Ruhestand und Mutter eines mittlerweile 46jährigen schwulen Sohnes, hat die Frage bei ihren Beratungsgesprächen für den Verein Befah (Bundesverband der Eltern, Freunde und Angehörigen von Homosexuellen) häufig gestellt bekommen und erwidert: "Gar nichts! Das Kind ist halt so geboren worden." Auch Jens Mankel hört die "Schuldfrage" oft – gibt aber keine einfache Antwort. Denn als freikirchlicher Pastor, Gestalttherapeut und Heilpraktiker für Psychotherapie weiß er, dass ein emotionaler und geistlicher Konflikt dahinter stehen kann. Mankel arbeitet als Referent für Seelsorge und Beratung in der Evangelisch-Freikirchlichen Akademie Elstal und bietet dort – zusammen mit anderen – Seminare für Angehörige homosexueller Menschen an. Besonders Eltern kommen mit vielen Fragen und Emotionen: "Da vermischen sich religiöse Glaubensüberzeugungen mit Scham, mit Schuldgefühlen, mit allerlei. Das ist ein unglaublich komplexes Feld."
Neben dem Glauben und den Gefühlen sind es festgefügte Bilder, die Eltern – bewusst oder unbewusst – mit sich herumtragen. Kulturell geprägte Überzeugungen von dem, was "männlich" und "weiblich" bedeutet, was eine Familie ist, wie die Zukunft der Kinder aussehen soll. So ging es Sabine und Klaus-Peter Lüdke, die sich eine Pfarrstelle im württembergischen Altensteig teilen und drei Kinder haben. Ihr jüngstes Kind ist transident, ein Junge im "weiblichen" Körper. Dass die vermeintliche Tochter ein Sohn ist, ging den Eltern nicht leicht in den Kopf. "Wir mussten uns von dem Bild, das wir von unserem Kind hatten, verabschieden und auch darüber trauern, eine Weile", sagt Klaus-Peter Lüdke.
Der Kontakt zu anderen ist wichtig
Mit dem Coming-Out des Sohnes – er war 12 Jahre alt – begann ein Weg des Suchens und Forschens für Familie Lüdke. "Wir hatten eigentlich keine Ahnung davon, was Transidentität ist", gesteht der Vater. "Und bei allem Vermuten waren wir insofern hilflos, als wir gedacht haben: Okay, jetzt muss uns jemand an die Hand nehmen und uns zeigen und erklären, was das ist. Da hatten wir das Glück, dass unser Kind uns auf den Weg mitgenommen hat." Gemeinsam besorgten Sohn und Eltern sich Literatur, schauten Videos an und vor allem: Suchten Kontakt zu anderen Eltern und zu erwachsenen transidenten Menschen. Die Eltern verstanden: "Der Weg unseres Kindes ist jetzt nicht der in eine schlechte Zukunft, sondern er kann auch fröhlich werden, er kann auch sogar mal Familie haben." Deswegen ist der wichtigste Ratschlag von Klaus-Peter Lüdke, "in Kontakt zu kommen mit anderen Eltern, die vielleicht schon ein bisschen voraus sind, die schon manche Krise überlebt haben und die auch schon manche Hilfe gefunden haben".
Gudrun Held hat nach dem Coming-Out ihres Sohnes angefangen, sich im Verein Befah zu engagieren. Sie war da schon einen Schritt weiter als andere: „Ich bin zu Befah gegangen, weil ich gerne politisch was verändern wollte. Die Gesellschaft war ja nicht besonders aufgeklärt. Durch meinen Sohn habe ich plötzlich festgestellt: Das Leben ist ganz schön anstrengend für schwule oder lesbische Menschen, da möchte ich was verändern.“ Bei Befah war die resolute Frau dann enttäuscht: „Da saßen so viele weinende Eltern und ich dachte: Da haben wir doch gar keinen Grund für. Ich habe gesagt: ‚Leute, also irgendwann müsst ihr mit dem Weinen aufhören.‘“ Andererseits konnte die die Tränen auch verstehen. „Ich denke, das war gut, dass es diese Elterngruppen gab, dass erstmal die Geschichten erzählt werden konnten.“ Heute sind nur noch wenige Befah-Elterngruppen aktiv: in Gütersloh, in Stuttgart und bei Bedarf in Hannover.
Schamgefühl und Sprachlosigkeit
Zu Gudrun Helds aktivsten Zeiten bei Befah – zeitweise als Bundesvorsitzende – suchten viele Eltern Rat bei ihr, oft auch am Telefon. "Schlimm fand ich, wenn meist Mütter, aber auch Väter sagten: ‚Ich wünschte, mein Kind wäre tot.‘ Dass sie das besser meinten auszuhalten als ein schwules oder lesbisches Kind, also damit hab ich schon meine Schwierigkeiten." Gudrun Held drückt sich zurückhaltend aus. Was sie wirklich empfindet, ist Wut. Wut auf das konservative gesellschaftliche Umfeld, in dem gleichgeschlechtlich Liebende sich verstecken müssen, in dem nur ja die Nachbarn nichts merken dürfen. Das "Problem" soll aus dem Blickfeld der Eltern verschwinden – tut es aber nicht.
"Scham ist, glaube ich, ein sehr starkes Gefühl", sagt Jens Mankel, der viel in verschiedenen freikirchlichen Gemeinden unterwegs ist. Immer wieder erlebt er dort, dass die Worte "schwul" oder "lesbisch" Menschen nur schwer über die Lippen kommen, von "trans" ganz zu schweigen. Selbst dann nicht, wenn sich in ihren Reihen jemand geoutet hat. "Im Umfeld einer Gemeinde, die ja so eine kleine Sozialgemeinschaft bildet, wird das sofort offenbar und gleichzeitig herrscht Sprachlosigkeit. Alle wissen es, aber das Gespräch miteinander kommt nicht zustande. Scham hat ja auch viel damit zu tun, dass es nicht aussprechbar, nicht ansprechbar ist." Bei einem Gespräch mit einer Mutter kam Jens Mankel darauf, dass Eltern lesbischer und schwuler Kinder Hilfe brauchen. "Mir wurde deutlich, dass die Eltern überhaupt nicht vorkommen mit ihren Fragen, mit ihren Nöten, mit ihren Kämpfen, mit ihren inneren Konflikten: Was ist jetzt hier biblisch, was ist verantwortbar und was nicht?"
Konflikte mit dem Bibelverständnis
Zusammen mit der Initiative Zwischenraum hat der Bund Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland (Baptisten- und Brüdergemeinden) bisher zweimal das Seminar "‚Mein Sohn ist schwul!‘ – ‚Meine Tochter lesbisch!‘ – ‚Und nun?‘" angeboten: "Das Seminar möchte (…) für Angehörige homosexueller Menschen einen vertraulichen und geschützten Raum bieten zum offenen Reden und Hören, zur Entlastung und zur persönlichen und geistlichen Klärung", heißt es in der Beschreibung. Wichtig für Jens Mankel: "Wir wollen nicht ein belehrendes Seminar machen, sondern ein seelsorgliches." Die Eltern haben Gelegenheit, über ihren Konflikt zu sprechen – vielleicht zum ersten Mal nach Jahren oder Jahrzehnten.
Worin der Konflikt gerade für evangelikal geprägte Eltern besteht, lässt sich ungefähr so beschreiben: Auf der einen Seite stehen ihr Bibelverständnis, nach dem Homosexualität "Sünde" ist, sowie ihre Gemeinde mit der Funktion einer Sozialgemeinschaft, die sie unter keinen Umständen verlassen wollen. Auf der anderen Seite steht die Liebe zu ihrem Kind. Ist das Kind nun ein Sünder, eine Sünderin? Kann die Familie dann noch zur Gemeinde gehören? Mit der sexuellen Orientierung des Kindes gerät alles in Wanken: Der Glaube, die Familie, das soziale Umfeld.
Ein bisschen Bibelkunde wird deshalb in das Seminar integriert. "Wir formulieren einen Umgang mit den Bibelstellen, der sie ernst nimmt, wobei ernst nehmen für uns eben auch bedeutet, sie in ihrem Zusammenhang zu verstehen", erläutert Jens Mankel. Es geht um die bekannten Stellen 1. Mose 1,27; 3. Mose 18,22 und 20,13; Römer 1,26-27; 1. Korinther 6,9-10. "Welche Perspektiven eröffnen sich denn, wenn ich sie in ihrem historischen Kontext erfasse und wenn ich sie in Beziehung setze zur Mitte der Schrift, zum Evangelium?", fragt Mankel. "Was ist denn das Profil christlicher Gemeinde nach dem Neuen Testament? Das ist ja die Liebe untereinander! Das versuchen wir beides zu vermitteln und gleichzeitig natürlich auch zu sagen: Es ist immer eine Sache der Auslegung." Wenn zum Beispiel ein Vater bei seinem konservativen Verständnis bleibe, aber zugleich zum eigenen Kind sagen könne: "‘Ich denke da anders drüber, aber das trübt nicht unsere Beziehung‘, das wäre ja ein Riesenschritt", sagt der Seelsorge-Referent.
Geduld und Zeit
Das Aufeinander-Zugehen ist übrigens von beiden Seiten her notwendig. Auch die Kinder können und sollten ihren Eltern helfen – vorausgesetzt, die Eltern signalisieren Offenheit. So war es bei Familie Lüdke: "Wir hatten das Glück, dass unser Kind sich gefreut hat über unsere Unterstützung und sich dann auch geöffnet hat, was seine Gedankenwelt anging. Wir konnten begreifen, wie schlecht es unserem Kind ging, und es war nicht einfach, offen darüber zu reden. Da musste einfach eine neue Offenheit wachsen." Bei Familie Lüdke ist es gelungen, weil Eltern und Kind sich getraut haben zu reden. "Wir haben heute ein neues Verhältnis", sagt Klaus-Peter Lüdke. "Kinder, nun habt mal Erbarmen mit uns Eltern", appelliert Gudrun Held besonders an die schon erwachsenen lesbischen Töchter und schwulen Söhne. "Ihr habt ja auch lange gebraucht, bis ihr akzeptiert habt und begriffen habt: ‚Ich begehre das gleiche Geschlecht.‘ Nun lasst uns Eltern auch mal die Zeit, dass wir erstmal umdenken können." Diese Zeit hätten Eltern wirklich nötig, sagt die 76-Jährige.
Noch mehr Geduld erfordert manchmal das erweiterte Umfeld: Die Großeltern, Onkel und Tanten, die Menschen in der Gemeinde, die Freunde. „Wer weiter weg ist, braucht entsprechend länger, um da auch emotional mitzugehen“, ist die Erfahrung von Klaus-Peter Lüdke. Bei manchen Freunden und Verwandten haben er und seine Frau gemerkt: „Okay, die sind jetzt einfach noch nicht so weit, wir müssen ihnen Zeit schenken und ganz viel erklären, damit wir sie mitnehmen können.“ Um in einer guten Weise auf die erweiterte Familie zugehen zu können, brauchen Eltern erst einmal Selbstsicherheit. Sie brauchen aussprechbare Worte und Sätze. „Wenn ich es selber – auch da, wo ich noch unsicher bin – erstmal formulieren kann, es benennen kann, dann finde ich auch Wege, es anderen zu sagen“, erläutert Jens Mankel. Das gelinge allerdings nicht immer ohne Schmerzen und Erschütterungen in den Familien. „Ich finde, die Frage ist ja: Trage ich diesen Schmerz und diese Erschütterungen allein in mir? Oder gibt es eine Möglichkeit, das auch zusammenzutragen? Den Großeltern, der Tante zu sagen: ‚Ja, das ist jetzt schwierig. Jetzt lasst uns mal gucken: Wie können wir denn damit umgehen?‘ Man sollte sie mit ins Boot holen.“
Die eine grundlegende Entscheidung bleibt den Eltern allerdings nicht erspart: Die Entscheidung nämlich, sich hinter ihr Kind zu stellen – bei aller Trauer, bei allem Noch-nicht-Verstehen und trotz der Scham- und Schuldgefühle. Für Klaus-Peter Lüdke ist das selbstverständlich: "Die Haltung, die ich allen Kindern und allen Eltern wünsche ist, dass die Eltern sagen: ‚Egal, was du empfindest, wie du bist, wie du mal orientiert sein wirst – das spielt für uns keine Rolle, du bist für uns unser geliebtes Kind. Und auch wenn sich jetzt in unser Wahrnehmung was ändert: Wir unterstützen dich auf deinem Weg."