Herr Weiss, geht ein Theologe anders mit Krankheit und Leid um?
Hans-Martin Weiss: Bei aller seelsorgerlichen Erfahrung mit anderen Menschen: Die letzten existenziellen Feinheiten des Umgangs mit sich selber kennt man nur an sich selber. Bei mir ist die Vorgehensweise ganz stark von der Theologie bestimmt. "Hadern Sie jetzt mit Gott?", wurde ich am Anfang meiner Krankheit gefragt. Das kommt bis heute nicht. Ich merke, dass mein Glaube mich nach wie vor trägt, so wie er mich vor 15 Jahren getragen hat.
Wie haben Sie die Krankheit für sich bewältigt?
Weiss: Es gibt Momente, da ist man in einer Weise ängstlich, die einem sonst nicht so geläufig gewesen ist. In anderen Momenten hat man eine Souveränität, dass man selbst staunt. Man muss vorsichtig sein, sich selbst zu viel Analyse und Selbstbewertung zuzumuten. Da sind wir wieder bei der Theologie. Die Rechtfertigung allein aus Gnade geschieht nicht durch das, was ich allein durch Klärung in mein Selbstbefinden hineingebe, sondern ist Gottes Werk. Richtig im Griff hat man es nie.
"Das hat wehgetan"
Wenn die dunklen Stunden da sind, hilft Ihnen das Gebet?
Weiss: Ja, ich bete dann (greift zum Gesangbuch): 'Sind nun die dunklen Stunden da, soll hell vor mir erstehen, was du, als ich den Weg nicht sah, zu meinem Heil ersehen. Du hast die Lider mir berührt. Ich schlafe ohne Sorgen. Der mich in diese Nacht geführt, der leitet mich auch morgen.' Das bete ich sehr oft. Das ist meine Basis - bis heute.
Wie waren die Reaktionen der Menschen auf Ihren offenen Umgang mit der Krankheit?
Weiss: Viel Bewunderung, dass man seinen Alltag und so ein schweres Amt hinkriegt. Schwierig waren für mich Leute, die zu laut reflektiert haben, ob es verantwortlich sei, jemanden mit meinem Gesundheitszustand im Amt zu belassen oder nicht. Diese Erwägungen gab es, selten im direkten Gespräch mit mir, aber es ist an mein Ohr gedrungen. Das hat wehgetan.
"Ich habe es als Herausforderung gesehen, sich bemerkbar zu machen, präsent zu sein und keine graue Maus"
Der Kirchenkreis Regensburg gilt als Diasporagebiet. Wie hat sich das auf die Amtsführung ausgewirkt?
Weiss: Ich habe es als Herausforderung gesehen, sich bemerkbar zu machen, präsent zu sein und keine graue Maus. Auch zu wissen, dass es viele engagierte evangelische Christen gibt, die man nicht durch pastorale Überheblichkeit übergehen darf, sondern ernst nehmen muss. In einem Gespräch mit dem damaligen Bischof Gerhard Ludwig Müller schlug dieser vor, dass evangelische Christen zur Eucharistie gehen könnten, wenn sie nicht die Hostie begehren, aber durch ein Zeichen deutlich machen, dass sie den Segen wünschen, wenn sie zum Altar gehen. Da habe ich damals voreilig entschieden, das sollten wir umsetzen. Das wurde dann als eine Form konfessioneller Selbstmarginalisierung angesehen.
Wenn Sie an die Highlights der Ökumene im Kirchenkreis zurückdenken…
Weiss: Das waren der Papstbesuch 2006 bei aller Amtskritik, im Reformationsjahr der Versöhnungsgottesdienst mit den Katholiken, bei dem ich dem Domkapitel eine Kopie der Hostiendose von der Neupfarrkirche aus dem Jahr 1542 geschenkt habe. So ein wertvolles Stück schenken und damit eine Botschaft ausdrücken zu können, das war ein Höhepunkt. Das Verhältnis heute ist trotz bleibender Differenzen viel unkomplizierter und leichter geworden.
Trotzdem ist das Amtsverständnis ein komplett anderes: Sie werden als Regionalbischof entpflichtet beim Eintritt in den Ruhestand, für Katholiken undenkbar.
Weiss: Ich bin ab dem 1. August nicht mehr Regionalbischof, sondern Oberkirchenrat im Ruhestand. Klingt ganz nett, aber diese Form von Demut werde ich noch einüben müssen. Trotzdem: Das Bischofsamt an sich ist die gleiche Aufgabe wie in der katholischen Kirche. Aber: Bei uns ist es funktional auf die Zeit begrenzt, in der man diese Aufgabe hat, und ist nicht per se ein Amt, zu dem man geweiht wird und das man ein Leben lang behält. Beim Tod des Altbischofs Manfred Müller sagte Bischof Rudolf Voderholzer, dass dieser jetzt in die Fundamente der Kathedrale eingehe. Das ist ernst gemeint und es benennt die Struktur dieser Kirche. Dort wo ich begraben werde, werden keine Fundamente einer Kathedrale aufzubauen sein.
Ein Regionalbischof ist immer auch in synodale Strukturen eingebunden. Gab es Entscheidungen, bei denen Sie unterlegen sind?
Weiss: Ja, ich habe damit leben müssen. In den Entscheidungen der synodalen Basis kann Weisheit vorhanden sein, die ich als Einzelperson trotz meiner Erfahrungen nicht beibringe, deswegen ist es gut, ihr etwas zuzutrauen. Mehrere Leute, die über eine Sache nachdenken, sind etwas Sinnvolles. Man kann sich auch durch Menschen korrigieren lassen, die in der Theologie nicht so tief drinstecken.
"Es muss auch im Interesse der Öffentlichkeit sein, dass sie ihre Kirche braucht und ihre Kirche will"
Die Säkularisierung schreitet auch in Regensburg voran. Wie sind Sie damit umgegangen?
Weiss: Ich habe es am eigenen Leib erlebt, wenn ich am Sonntag Gottesdienst gehalten habe. Ganz wichtige Reaktion darauf: sich nicht einzubilden, dass man der amtlich bestellte Heilsbringer ist, der denen vor Ort sagt, wie sie es richtig machen. Sondern mit den Verantwortlichen darum ringen, wie Gottesdienst sinnvoll gestaltet werden kann. Das ist in Regensburg geschehen. Die Ergebnisse sind bestenfalls auf dem Weg, bessere zu werden, aber eine richtige aufstrebende Bewegung lässt noch auf sich warten.
Laut Freiburger Studie gehen 2030 noch weniger Menschen zum Gottesdienst.
Weiss: Bei allen Schwierigkeiten der Validität der Freiburger Studie: Ich halte es für notwendig, dass man sich nicht alle vier Monate durch neue öffentliche Reaktionen zu neuen Kurskorrekturen genötigt sieht. Ich bin dafür, dass man Gemeinden und Orte kirchlichen Lebens ein bisschen behandelt unter der Perspektive: "Let them do!". Es liegt auch nicht nur an Pfarrern, Lehrerinnen und Kirchenmusikern. Es muss auch im Interesse der Öffentlichkeit sein, dass sie ihre Kirche braucht und ihre Kirche will. Nicht nur: 'What are you doing for your country', sondern auch 'what are you doing for your church?'.
Was würden Sie Ihrem Nachfolger empfehlen?
Weiss: Gut hinzuschauen, manchmal eher zweimal zu überlegen, was man tut. Vor allzu großer Spontaneität würde ich warnen. Es bedarf der Sorgfalt und Genauigkeit in der Problemanalyse. Da ist Spontaneität manchmal hinderlich. Ich würde meinem Nachfolger empfehlen, dass er genauso fröhlich anfängt, wie ich angefangen habe, und genauso, dereinst weiser geworden, fröhlich sein Amt in andere Hände legen kann.
Was kommt nach dem 31. Juli 2019?
Weiss: Dass meine Frau und ich intensiver Zeit füreinander haben als es früher der Fall war. Und dass ich zusammen mit ihr in den Gottesdienst gehen kann. Ich brauche jetzt keine fordernden Aufgaben, eher eine gewisse Verhaltenheit, mich aus dem intensiven Getriebe herauszunehmen, und zu genießen, dass man faul sein kann. Faul zu sein war unmöglich in den letzten Jahren.