Hitlerglocke
© epd-bild/Monika Franck
Die sogenannte Hitlerglocke in der evangelischen Jakobskirche in Herxheim am Berg mit der Inschrift „Alles für’s Vaterland. Adolf Hitler“ und einem Hakenkreuz.
Wenn die Hitlerglocke zum Gebet ruft
Die Geschichte der Nazi-Glocken in evangelischen Kirchen
Die Aufregung begann mit einer relativ kleinen Glocke: 250 Kilogramm schwer, 72 Zentimeter Durchmesser. Mehr als 80 Jahre hing sie weitgehend unbeachtet im Turm der Jakobskirche in Herxheim am Berg, tat ihren Dienst und rief die Kirchengemeinde zusammen mit den anderen beiden Glocken zum Gottesdienst - bis eine Bürgerin auf ihre Inschrift "Alles fuer’s Vaterland. Adolf Hitler" aufmerksam wurde.

Dann ging alles ganz schnell: Die Frau wandte sich an eine Lokalzeitung, die einen Artikel über die Glocke veröffentlichte. Überregionale Medien sprangen bald auf das Thema auf, sogar im Ausland wurde über die "Hitlerglocke" berichtet. In ganz Deutschland sprachen Menschen über die Glocke in dem kleinen rheinland-pfälzischen Dorf, bis nach und nach immer mehr solcher Fälle publik wurden.

Ein weiterer Aufreger war zum Beispiel die Glocke mit Hakenkreuz im niedersächsischen Schweringen bei Nienburg. Sie entzweite das Dorf so sehr, dass einige Bewohner schließlich heimlich den Winkelschleifer ansetzten

Große Bandbreite

Die evangelischen Landeskirchen leiteten nach den ersten öffentlich gewordenen Fällen Untersuchungen ein. Nach Angaben der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) wurden 2018 in 14.000 Kirchengemeinden 22 Glocken mit nationalsozialistischen Inschriften oder Symbolen gefunden, von denen ein Großteil nicht mehr genutzt werde. Ein Sprecher der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland sprach dabei von einer "großen Bandbreite": Manche Glocken zeigten ein kleines Hakenkreuz, andere ein Konterfei von Adolf Hitler.

Wenn in einer Gemeinde eine solche Glocke gefunden wird, hat sie verschiedene Möglichkeiten, erklärte der Sprecher: Sie kann die Glocke austauschen, sie abnehmen und in ein Museum bringen lassen, sie einschmelzen und neu gießen lassen, sie nicht mehr läuten lassen, eine Gedenktafel anbringen oder die nationalsozialistischen Aufschriften abschleifen lassen.

Gegner und Befürworter der einzelnen Optionen stehen sich dabei oftmals unvereinbar gegenüber. Während die einen in den Glocken ein Mahnmal gegen Gewalt und Unrecht sehen, wollen andere nicht von einer "Hitlerglocke" zum Gebet gerufen werden. Besonders Nachfahren von im "Dritten Reich" verfolgten Menschen wünschen sich, dass die Glocken aus den Kirchtürmen verschwinden. So klagte ein Jude, dessen Verwandte Opfer des NS-Terrors waren, gegen den Gemeinderatsbeschluss, die Glocke in Herxheim nicht abzuhängen und stattdessen eine Gedenktafel aufzustellen. In Thüringen, wo es derzeit sechs "Nazi-Glocken" gibt, kritisierte die jüdische Landesgemeinde das ihrer Ansicht nach unsensible Vorgehen der Landeskirche und der Kirchengemeinden scharf.

Auch der Historiker Manfred Gailus, außerplanmäßiger Professor für Neuere Geschichte an der TU Berlin, bezeichnet den Umgang der Landeskirchen und der EKD-Spitze mit den Glocken als "sehr unangemessen". "Man lässt die Dinge treiben und überlässt es den betroffenen Gemeinden, damit umzugehen", sagte er. Die Gemeinden seien jedoch in den allermeisten Fällen überfordert. Viele hätten versucht, das Problem durch Schweigen auszusetzen. Durch die bekannt gewordenen Skandalfälle Herxheim und Schweringen seien dann aber bei Nachforschungen zahlreiche "kontaminierte Glocken" gefunden worden, die dies nicht mehr möglich machten.

Audioslide: Besuch in der Glockengießerei Rincker

Das Beispiel Herxheim zeigte, wie der Umgang mit einer "Nazi-Glocke" eine Gemeinde tatsächlich überfordern kann: In den turbulenten Monaten, die dem Lokalzeitungsartikel folgten, trat ein Bürgermeister zurück, die Medien stürzten sich auf die Bürger des 800-Einwohner-Dorfes, die NPD marschierte auf und forderte, "Die Kirche im Dorf und die Glocke im Turm" zu lassen.

Die Einwohner Herxheims, so schien es in den zahlreichen Fernsehbeiträgen, wollten einfach nur noch ihre Ruhe. Und tatsächlich ist die Auseinandersetzung mit den Glocken nicht einfach, schließlich wecken sie Erinnerungen an eine Zeit, in der sich die evangelische Kirche nicht ansatzweise so stark von rechtem Gedankengut abwandte, wie sie es jetzt tut. "Ich sehe in der Entdeckung der vielen Hitler-Glocken einen späten Beweis dafür, wie nah das Verhältnis zwischen Protestantismus und dem Nationalsozialismus war", sagt Historiker Gailus.

Bereits 1932, also noch vor der Machtergreifung Hitlers, wurde die Glaubensbewegung Deutsche Christen gegründet. Diese Vereinigung protestantischer Nationalsozialisten gewann am 23. Juli 1933 die Kirchenwahlen in der neugeschaffenen einheitlichen Reichskirche und stellte damit die Bischöfe in fast allen evangelischen Landeskirchen. Im Dezember 1933 wurden die evangelischen Jugendverbände in die Hitler-Jugend überführt, das Alte Testament wurde als "jüdisch" verworfen. Zwar protestierten viele Kirchenmitglieder gegen diese Anschauungen, was letztlich zur Gründung der Bekennenden Kirche führte, trotzdem wurden der Nationalsozialismus und auch der Antijudaismus von vielen Protestanten stillschweigend gebilligt wenn nicht sogar ausdrücklich begrüßt.

"In rein protestantischen Regionen erzielten die Nationalsozialisten bei allen Wahlen bis 1933 deutlich höhere Wahlergebnisse als in katholischen Gebieten", sagt Experte Gailus. Grundsätzlich seien Protestanten nationaler eingestellt gewesen, was sich bis auf Martin Luther und die Reformation zurückführen lasse. Aber auch die stark kirchlich-protestantische Deutschnationale Volkspartei, die von 1918 bis 1933 aktiv war, sei fast ebenso stark antisemitisch ausgerichtet gewesen wie Hitlers NSDAP. Zudem seien führende evangelische Theologen der Zeit wie Gerhard Kittel große Verfechter des Nationalsozialimus gewesen.

Kein Protest

Und so erfolgte auch die Herstellung der "Nazi-Glocken" laut Historiker Gailus "in der Regel im Auftrag der Kirchengemeinden". Beispiele, in denen sich eine Gemeinde gegen nationalsozialistische Symbole oder Inschriften wehrten, seien nicht bekannt. "Der braune Zeitgeist herrschte so bestimmend in die Kirchengemeinden hinein, dass ein Protest dagegen völlig ausschied", sagt er.

Die Gründe, warum neue Glocken gegossen wurden, waren vielfältig, erklärt Gailus. In Herxheim gingen beispielweise 1934 nach einer Brandstiftung alle Glocken verloren. Von den drei neuen Glocken wurde eine, die Polizeiglocke, Adolf Hitler gewidmet. Sie wurde bei Flieger- oder Feueralarm als Warnsignal geläutet. Die anderen beiden mussten während des Krieges abgegeben werden – ein nicht ungewöhnlicher Vorgang während der Weltkriege, in denen chronisch Rohstoffe für die Rüstungsindustrie gebraucht wurden. Im ersten Weltkrieg wurden rund 65.000 Glocken aus den Kirchen entfernt. Auch deswegen oder bei neuerbauten Kirchen wurden während der NS-Zeit neue Glocken gegossen.

"Das Thema ist weiterhin schmerzhaft", sagt Gailus. Im Protestantismus sei das Verhältnis zum Nationalsozialismus lange verdrängt und erst spät aufgearbeitet worden. Generell könne man von einer Traumatisierung sprechen. Die NS-Glocken rissen alte Wunden wieder auf. Auch die aktuelle politische Situation mit dem Aufkommen des Rechtspopulismus spiele eine Rolle. "Das Thema ist also überall da, wo keine Aufarbeitung stattgefunden hat, weiterhin angstbesetzt", sagt er.

Die EKD beruft sich derweil darauf, dass die evangelische Kirche "förderal und auf kirchengemeindlicher Ebene eigenverantwortlich organisiert" ist. Auch der Sprecher der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland verwies darauf, dass keine Landeskirche den Gemeinden vorschreiben könne, wie sie mit den Glocken umzugehen haben.

Gespräch gesucht

Während also der Landeskirchenrat der Evangelischen Kirche der Pfalz den betroffenenen Gemeinden empfiehlt, die Glocken abzuhängen und auszutauschen, wofür extra ein 150.000 Euro-Fonds angelegt wurde, will das Landeskirchenamt in Sachsen erst noch mit den Gemeinden über den Umgang mit den Funden ins Gespräch kommen. In Mitteldeutschland läuten die betroffenen Glocken seit Anfang April nicht mehr, in mehreren Gemeinden sind inzwischen Neugüsse geplant.

In die Diskussion um die Herxheimer Glocke ist Ende Januar zumindest rechtlich Ruhe eingekehrt. Das rheinland-pfälzische Oberverwaltungsgericht entschied damals, dass der Gemeinderatsbeschluss zur Glocke juristisch nicht zu beanstanden sei. Die nationalsozialistischen Verbrechen würden durch die Gedenktafel ausdrücklich anerkannt, eine Berufung wurde nicht zugelassen. Trotzdem wird Herxheim am Berg noch lange "das Dorf mit der Hitlerglocke" sein - und ein Gespräch über die Entscheidung der Gemeinde wird wohl weiter die Geister scheiden.