Am 24. Dezember 1968 gegen Mittag stand die Pfarrersfrau vor Klaus Büstrins Tür: "Klaus, mein Mann ist stockheiser. Er kann nicht reden. Heute Abend sind zwei Gottesdienste. Kannst du bitte einspringen?"
Für den 24-jährigen Potsdamer kam die Anfrage plötzlich, aber er war vorbereitet. Büstrin hatte kurz zuvor in dem Thüringer Ort Neudietendorf eine vierjährige kirchliche Ausbildung abgeschlossen. Er hatte an den Wochenenden und abends gelernt - neben seinem Studium der Musikwissenschaft. Nach dem Examen in Neudietendorf durfte er sich nun Prädikant nennen oder Hilfsprediger oder "freier Mitarbeiter für Wortverkündigung", wie das Amt in der DDR genannt wurde.
Die Lieder für den Weihnachtsgottesdienst hatte der erkrankte Pfarrer festgelegt. Auch eine Predigt hatte er verfasst, aber Klaus Büstrin konnte seine Schrift nicht lesen. Also kramte Büstrin die Predigt heraus, die er vier Wochen zuvor für die Abschlussprüfung in Neudietendorf verfasst hatte. Er atmete tief durch - und machte sich auf den Weg zur Kirche. "Die Gottesdienstbesucher haben mich sofort akzeptiert", erinnert er sich. "Sie kannten mich ja und wussten, dass ich der Gemeinde verbunden bin."
Auch heute noch kennen viele Menschen in Potsdam den freundlichen älteren Herren. Das liegt einerseits an seinem Hauptberuf. Klaus Büstrin hat jahrzehntelang als Musikkritiker gearbeitet, mehrere Bücher verfasst und ist bestens vernetzt mit der örtlichen Kulturszene. Inzwischen ist er im Ruhestand. Andererseits kennen ihn die Menschen als Prädikanten.
Er hat sich angewöhnt, für jeden Sonntag eine Predigt zu schreiben, egal, ob er für den Gottesdienst in einer Potsdamer Kirche fest eingeplant ist oder nicht. Denn er hat schon häufig Gemeinden aus der Patsche geholfen. Kommt ein Anruf, holt er sein Manuskript hervor und fährt los.
Seiner Stimme ist anzumerken, dass er das Reden vor Publikum gewohnt ist. Er spricht ruhig und setzt Pausen gekonnt ein. Doch er gesteht: "Je älter ich werde, umso aufgeregter bin ich." Vor einem Gottesdienst überlegt er häufig: "Habe ich alles richtig bedacht?" Letztlich hilft ihm seine Erfahrung, mit der Nervosität fertig zu werden. Und als Christ fühlt er sich prinzipiell "wohl behütet", wie er sagt, besonders, wenn er sich im Gebet an Gott wendet: "Ich sage immer: Man muss Gott in den Ohren liegen mit seinen eigenen Anliegen und den Anliegen der Menschen, die für eine gute Sache leben."
Als Potsdamer gehört Klaus Büstrin zur Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO). Dort leitet Christina-Maria Bammel ein Referat für Kirchliches Leben. Sie rechnet vor, dass in der EKBO rund 900 Pfarrerinnen und Pfarrer im aktiven Dienst und außerdem 180 ehrenamtliche Prädikantinnen und Prädikanten tätig sind. Wieviel Prädikanten es deutschlandweit gibt, hat noch niemand gezählt.
In ganz Deutschland sind die Hilfsprediger Gesprächspartner für Menschen in ihren Gemeinden. Wer eine praktische Frage hat oder sich mit einem Anliegen nicht gleich zur Pfarrerin wagt, der findet bei ihnen Unterstützung. Welche Aufgaben sie darüber hinaus haben und wie sie ausgebildet werden, das regelt jede Landeskirche für sich.
Die Theologin Bammel spricht nur für die EKBO, wenn sie deren Kirchengesetz von 2017 zitiert: "Prädikantinnen und Prädikanten sind im Rahmen ihrer Beauftragung zur freien Wortverkündigung und zur Verwaltung der Sakramente befähigt." Will heißen: Sie dürfen predigen, taufen und das Abendmahl austeilen.
"Ich möchte das nicht noch einmal erleben wie zwischen 1933 und 1945"
Dass es das Ehrenamt überhaupt gibt, hängt damit zusammen, dass evangelische Christinnen und Christen vom "Priestertum aller Getauften" ausgehen: Die Bibel auszulegen, das ist kein Vorrecht von Geistlichen. Das Wort zu verkünden, ist in den Augen vieler Menschen eine ehrenvolle Aufgabe. Die EKBO sieht deshalb vor, dass die Prädikantinnen und Prädikanten eine "angemessene Kleidung" tragen. Manche legen einen Talar oder eine Albe an, ein langes, weites Gewand in einer hellen Farbe. Klaus Büstrin holt den guten Anzug aus dem Schrank.
Er wurde als Kind getauft, doch seine Familie ging selten in den Gottesdienst. Sein Vater war im Krieg gefallen. Die Nachmittage bei den Jungen Pionieren, der sozialistischen Jugendorganisation der DDR, fand Klaus Büstrin "so dröge und langweilig, dass mich das einfach nur abgestoßen hat". Eines Tages nahm ihn jemand mit zur Christenlehre: "Wir haben zusammen gesungen. Das war so lebendig! Die Gemeindepädagogin war eine ganz Liebe. Ich fühlte mich dort hingezogen."
Bald bekamen seine Lehrer mit, dass er regelmäßig in die Kirche ging. Es folgte der DDR-typische Rüffel. Wenn er so weiter mache, könne Klaus nicht aufs Gymnasium und auch nicht studieren, ließen sie seine Mutter wissen. Sie verteidigte ihn konsequent: "Mein Klaus geht dorthin, wo’s ihm Freude macht. Ich möchte das nicht noch einmal erleben wie zwischen 1933 und 1945, das gesagt wird, wo man hinzugehen hat, was man glauben darf", erinnert sich Büstrin an ihre Worte. "Ich fand das großartig von ihr. Das hat mich sehr bewegt, und ich dachte: Ja, das hier ist mein Platz."
Er wollte sogar Pfarrer werden. Aber das fand seine Mutter in der DDR doch zu heikel. Die vierjährige Ausbildung zum Prädikanten war der Kompromiss, auf den sie sich einigten. In Neudietendorf findet seit 1960 Kirchlicher Fernunterricht statt.
Prädikant in der EKBO
Heute dauert der theoretische Teil der Ausbildung zweieinhalb Jahre und umfasst die Fächer Altes und Neues Testament, Kirchengeschichte mit Ökumenik, Systematische und Praktische Theologie.
In der EKBO folgt eine praktische Ausbildung, die vom Amt für kirchliche Dienste organisiert wird und auf die Tätigkeit in der Gemeinde vorbereitet. Anschließend wird der Prädikant zunächst für sechs Jahre in sein Amt berufen, eine Zeitspanne, die verlängert werden kann. Eigentlich soll in der EKBO für den kollegialen Austausch zwischen den Prädikanten und den anderen Mitarbeitern der Kirche gesorgt werden. Doch Klaus Büstrin meint, dass dieser Austausch in Potsdam nur selten stattfindet.
"Sie wollten einen schönen Gottesdienst ohne Probleme"
Als Prädikant lotete er aus, wieviel man in der DDR gerade noch öffentlich sagen durfte. Die Leute hätten ja von der Kirche erwartet, dass dort kritische Worte fallen, sagt er. Oft hatte er den Eindruck, dass jemand von der Staatssicherheit im Gottesdienst saß und genau zuhörte. Im Potsdamer Stadtteil Eiche, wo er häufig predigte, unterhielt die Stasi eine Hochschule für ihre Mitarbeiter. Doch Probleme hatte Büstrin nie.
Oft predigte er vor Handwerkern und Bauern, die in der DDR-Zeit in Potsdam und Umgebung lebten. "Sie wollten einen schönen Gottesdienst ohne Probleme", erinnert er sich. Ab 1990 veränderte sich die Bevölkerung der Stadt. Bildungsbürger und Künstler zogen nach Potsdam. Sie sind kritische Zuhörerinnen und Zuhörer, die länger über ein Thema nachdenken wollen: "Sie sprechen mich dann auch an: 'Ihre Predigt war heute wunderbar.' Oder: 'Ich hab’s nicht verstanden.' Oder: 'Können wir noch mal darüber reden?'"