Jesus war und blieb bis zu seinem Tod Jude. Und ob er tatsächlich eine neue Religion begründen wollte, muss auch stark bezweifelt werden. Wie aber kam es dann dazu, dass sich das Christentum entwickelte? Und wer war der erste Christ, wenn nicht Jesus?
In den Evangelien wird deutlich: Jesus war Jude, genau wie seine Eltern. Er wuchs in der jüdischen Tradition auf und befolgte deren Sitten und Gebote. Er kannte die Heiligen Schriften der Juden genau und feierte wie alle Juden das Passafest. Er stellte sich nicht gegen das Judentum, sondern glaubte an den Gott, von dem in der Tora die Rede ist und wollte die alten jüdischen Gesetze auch nicht aufheben, sondern sagte sogar: "Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen." (Matthäus 5,17) Jesu Botschaft ist nur vor dem Hintergrund der jüdischen Vorgeschichte und den schon im Alten Testament anklingenden Vorstellungen richtig zu verstehen. Wie viele andere Juden damals – zum Beispiel auch sein Vorgänger Johannes der Täufer – rechnete Jesus mit dem baldigen Untergang der Welt und dem Anbrechen des Reiches Gottes. Von diesem Gottesreich wollte er den Menschen erzählen und sie darauf vorbereiten. Dabei richtete er seine Botschaft hauptsächlich an das jüdische Volk, schloss aber dennoch niemanden aus, der bereit war, zu glauben.
Das wird deutlich in einer Geschichte, in der eine Frau aus Kanaan – also ein Nicht-Jüdin – trifft. Sie bittet ihn, ihre kranke Tochter zu heilen. Nach anfänglichem Zögern tat er es – und zeigte damit, dass er für alle Menschen gekommen ist, unabhängig von ihrem Glauben.
Es zeigt sich: Jesus nahm die Gebote der eigenen Religion zwar ernst. Aber er befolgte sie nicht sklavisch, sondern maß sie daran, ob sie einen Nutzen für die Menschen haben. So tolerierte er zum Beispiel die Tatsache, dass seine Jünger gegen die Reinheitsvorschriften beim Essen verstießen. Darauf angesprochen, konterte er mit den Worten: "Es gibt nichts, was von außen in den Menschen hineingeht, das ihn unrein machen könnte; sondern was aus dem Menschen herauskommt, das ist's, was den Menschen unrein macht." (Markus 7,15)
Mit solchen Sätzen und Einstellungen wollte Jesus die erstarrten Strukturen einer zu starken Prinzipienreiterei durchbrechen, nicht aber eine neue Religion gründen. Da er allerdings offensichtlich mit sehr starker Ausstrahlung und Überzeugungskraft predigte und lehrte, gab es bald immer mehr Menschen unter den Juden, die ihn für den ersehnten Messias hielten, den Retter, der ein neues Zeitalter herbeiführen sollte. Jesus selbst hat nie behauptet, dieser Messias zu sein, es aber auch nicht abgestritten. Kurz vor seinem Tod vom Statthalter gefragt, ob er denn nun der erwartete König der Juden sei, antwortete er zweideutig: "Du sagst es" (Matthäus 27,11).
Jesus sah sich als Jude. Erst dadurch, dass seine Botschaft und die Geschehnisse um seinen Tod und Auferstehung die Menschen so sehr beeindruckten, war die Grundlage für eine neue Religion, das Christentum gelegt. Zunächst jedoch dauerte es noch viele Jahre, bis das Christentum nicht mehr als jüdische Sekte, sondern als eigenständige Religion angesehen wurde, der auch Heiden, also nichtjüdische Menschen, angehörten. Hauptverantwortlich für diese Öffnung den Heiden gegenüber war Paulus, der die Ansicht vertrat: Das Evangelium ist nicht nur für Juden gedacht. Paulus war zudem der einzige "Apostel", der Jesus gar nicht persönlich gekannt hatte, sondern durch eine Vision zum Glauben gekommen war. Man könnte also mit gutem Recht sagen, nicht Jesus, sondern Paulus war der erste Christ.