Frau Azar, Ihren Bachelor in Theologie haben Sie an der Near East School of Theology in Beirut abgeschlossen. Unterscheidet sich Ihr Studienalltag hier in Deutschland sehr vom Leben im Libanon?
Sally Azar: Im Libanon war das akademische System etwas strenger und verschulter, in Deutschland haben die StudentInnen mehr Freiheiten. Dafür sind die bürokratischen Anforderungen hier höher. Göttingen ist eine Universitätsstadt, das Studentenleben ähnelt dem in Beirut durchaus. Die Situation in Hermannsburg ist aber ganz anders. Wir wohnen dort zusammen auf dem Campus, es ist sehr ländlich und abgeschieden. Und wir sind eine internationale Gemeinschaft: Meine MitstudentInnen kommen unter anderem aus Russland, Indien und Korea. Mit ihnen spreche ich nur Englisch, es ist für uns alle ein intensiver interkultureller Austausch.
Ihr Zuhause ist Ostjerusalem. Was prägt Ihren Alltag dort?
Azar: Das Leben dort ist viel stärker durch Politik und Begrenzungen geprägt als in Deutschland. Kürzlich bin ich in die Niederlande gereist und musste an der Grenze nicht einmal meinen Pass zeigen. In Ostjerusalem leben wir in der Nähe des Bethlehem-Checkpoints – da werden wir jedes Mal kontrolliert, wenn wir ins Westjordanland und zurück fahren. Wir kaufen zum Beispiel gern auf dem Markt in Bethlehem oder in Beit Jala ein. Offiziell dürfen wir unsere Einkäufe aber nicht nach Jerusalem mitnehmen.
Das heißt, wenn Sie Pech haben, müssen Sie die Einkäufe am Checkpoint abgeben? Werden Sie denn auch mit Jerusalem-ID jedes Mal kontrolliert?
Azar: Ja, unsere Pässe werden immer kontrolliert. Das mit den Einkäufen ist Glückssache, da wird nicht immer nachgeschaut. Ein weitere Aspekt, der kompliziert ist: Viele Familienmitglieder von uns leben im Westjordanland und können uns nicht einfach in Jerusalem besuchen. Wir müssen dann einen Ort finden, der für alle gut zugänglich ist. Meistens ist das Jericho.
Warum haben Sie sich entschieden, in Beirut zu studieren?
Azar: Das haben mir mein Vater, Ibrahim Azar, und der damalige Bischof der ELCJHL, Munib Younan, geraten. Zwar war ich mir mit 18 Jahren noch gar nicht sicher, ob ich Pfarrerin oder etwas ganz anderes werden will. Doch ich bin schon von klein auf in die Gemeindearbeit hineingewachsen, unter anderem habe ich Kindergottesdienste mitgestaltet. Als ich mich schließlich für ein Theologiestudium entschieden habe, war mir wichtig, meinen beruflichen Weg mit meiner Kirche abzustimmen. Wirklich zur Pfarrerin berufen gefühlt habe ich mich aber erst in Beirut, in meinem zweiten Studienjahr.
"Ich bin bereit, für die Frauen in unseren Gemeinden einzustehen"
Sie wären dann die erste Pfarrerin der ELCJHL. Haben Sie das Gefühl, dass Ihre Kirche bereit ist für eine Frau im Amt?
Azar: Grundsätzlich ja. Obwohl es auch viele Vorbehalte gibt: Gerade Männer der älteren Generation akzeptieren Frauen in wichtigen Positionen noch nicht so. Bevor ich nach Deutschland gegangen bin, habe ich bereits in drei unserer Kirchen gepredigt. Natürlich habe ich mich vorher gefragt: Wie werden die Leute reagieren? Doch die meisten Gemeindemitglieder haben sich gefreut, besonders die Frauen. Seit 2010 ist die Ordination von Frauen in der ELCJHL offiziell möglich, damals folgte die Kirche dem Synodenbeschluss von 2007. Aber ich bin darauf vorbereitet, dass es nicht so einfach sein wird als erste Pfarrerin im Amt. Die Verbindung zu unseren jetzigen Gemeindepfarrern habe ich bereits gesucht. Und sie haben mir zugesichert, mich zu unterstützen.
Würden Sie sich als Feministin bezeichnen?
Azar: In der palästinensischen Gesellschaft gibt es viele Frauen, christliche wie muslimische, die sich als Feministinnen verstehen. Ich selbst würde mich nicht direkt als Feministin bezeichnen, obwohl ich sehr für Frauenrechte bin. Auf jeden Fall bin ich bereit, für die Frauen in unseren Gemeinden einzustehen. Denn viele von ihnen haben hart für Gleichberechtigung innerhalb der Kirche gekämpft. In unserer Gesellschaft gibt es grundsätzlich sehr starke Frauen. Deswegen habe ich vor meiner künftigen Aufgabe auch keine Angst.
Sie sind neben Ihrem Studium auch im Rat des Lutherischen Weltbundes aktiv: Was genau ist Ihre Aufgabe?
Azar: Ich bin Frauenrepräsentantin und Jugendrepräsentantin für die Region Asien. Der Rat des Lutherischen Weltbundes trifft sich einmal pro Jahr, 2019 werden wir alle in Genf zusammenkommen. Zwischen den Sitzungen des Rats treffen sich die unterschiedlichen Gruppen zu Beratung: Als Jugendliche entwickeln wir in unseren Meetings zum Beispiel gemeinsam Strategien, um mehr Jugendliche für Kirche begeistern und sie aktivieren zu können.
Welche Strategien sehen Sie da?
Azar: Jugendliche sollten das Gemeindeleben aktiver mitgestalten können. Etwa, indem sie bei den Gottesdiensten Musik machen. Auch Aktivitäten wie Sommercamps, die Gemeinschaft unter den Jugendlichen fördern, sind ein guter Weg. Wir bieten in unserer Kirche jedes Jahr Camps für drei Altersgruppen an. Außerdem spielt in Palästina das Familienleben eine sehr wichtige Rolle: Wir können Kinder und Jugendliche also auch über ihre Familien erreichen.