Frau sitzt mit ausgestreckten Armen auf einem Wall.
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Der Protestantismus gibt den Gläubigen die Freiheit und den Mut, sich selbst auf die Suche nach Gott zu begeben.
Mutiger evangelisch denken und handeln
Der Politologe und Politikberater Erik Flügge hat ein kritisches Buch über die Zukunft des Protestantismus geschrieben „Nicht heulen, sondern handeln“, heißt der Titel. Es erscheint am 1. April. Flügge kritisiert darin, dass die evangelische Kirche ihr Potential nicht ausschöpfe – deshalb seien die Kirchen auch leer. Im Interview erzählt er, wie sich das ändern könnte.

Herr Flügge, Sie sind sind selbst Katholik. Was schätzen Sie am Protestantismus, was Sie in der katholischen Kirche vermissen?

Flügge: Mitentscheiden zu können. Veränderungsmöglichkeit. Keine Herrschaft allein von oben sondern gemeinsames Ringen um die Wahrheit. Das ist großartig, lähmt aber leider zu oft.

Ansonsten sind sie in Ihrem Buch wenig zimperlich. Sie sprechen davon, dass Gottesdienste in der evangelischen Kirche eigentlich tot sind.

Flügge: Sind sie ja auch. Laut Zahlen der EKD kommen nur drei Prozent der eigenen Mitglieder. Das ist schon sehr tot für das zentrale Format einer Kirche. Offensichtlich sind Gottesdienste nicht der Mittelpunkt für die meisten Mitglieder. Da wird es dringend Zeit wieder zu verstehen, was der Protestantismus eigentlich will. Nämlich eine individuelle Beziehung zwischen den Menschen und Gott zu fördern, ohne dass sich eine Pfarrperson dazwischen drängeln muss. 97 Prozent sehen das so, nur die Pfarrerinnen und Pfarrer finden das nicht gut.

Der Politologe und Politikberater Erik Flügge über den Grund, warum seiner Ansicht nach nur drei Prozent evangelischer Christen in den Gottesdienst gehen.

Was schlagen Sie vor?

Flügge: Hört auf mit diesen sich wöchentlich sich wiederholenden Gottesdiensten mit ihrer Mittelmäßigkeit. Seltener und dafür besser heißt die Devise. Formt einen neuen Protestantismus, der Inspirationsräume bietet. Der Kunsträume bietet. Der einen Rahmen erschafft, indem ich eine individuelle Beziehung zu Gott leben kann als evangelischer Christ. Es geht nicht darum, dass die Pfarrerinnen und Pfarrer viel Predigtzeit bekommen, sondern die Christen viel Zeit mit Gott.

Wieso sind sie so sicher, dass "Inspirationsräume" funktionieren könnten?

Flügge: Das Schlimmste, was ihnen passieren kann, ist eine langatmige Predigt über die Bibel. Das treibt weg von Gott. Stattdessen funktioniert es aber, wenn Menschen Lust bekommen, Gott selbst zu suchen. Zum Beispiel in einer kirchlichen Kunstausstellung wird es oft wunderbar. Genauso beim ernsthaften Gespräch auf Augenhöhe oder bei Kirchenkonzerten – da ist der Protestantismus stark. Da kommen die Leute auch in Scharen. Das ist auch die Suche nach der Göttlichkeit in all den wundervollen Werken, die es gibt. Nicht blind, sondern auch im Wissen. Das ist eine Kernstärke des Protestantismus und die gehört ausgebaut.

"Es braucht keine Oberaufsichtsperson über die richtige Form für den Gottesdienst"

Schneiden Sie damit nicht Kirche von ihrer Tradition ab?

Flügge: Wenn man glaubt, die Belehrung der Gemeinde von der Kanzel herab wäre die ganze Tradition, dann ja. Das ist aber gar nicht der Kern. Ich nehme die protestantische Tradition sehr ernst. Das Priestertum aller Gläubigen meint doch, dass es keine Autorität braucht, die vorne steht und alles reguliert. Es braucht keine Oberaufsichtsperson über die richtige Form für den Gottesdienst, die Liedauswahl und die Bibelinterpretation.

Aber Sie wollen die Pastorinnen und Pastoren nicht abschaffen?

Flügge: Ich wünsche mir, dass Sie zu Dienerinnen und Dienern ihrer Gemeinde werden statt zur Leitung. Menschen, die für die Gläubigen mehr als Ansprechpartner da sind, sich Zeit nehmen, zuhören können und den Dialog suchen anstatt die Gemeinde leiten zu wollen. So wie Jesus. Der hat auch nur selten gepredigt und ist meist mit seinen Jüngern gewandert.

Sie schätzen Synoden als demokratisches Element – im Gegensatz zum Katholizismus regiert man nicht über die Gläubigen hinweg, weil es eine Beteiligung, ein Kirchenparlament, gibt.

Flügge: Ja, nur leider verwässern sich in Prozess der Konsensfindung auch viele Positionen. Alle Ecken und Kanten werden abgeschliffen. Immer geht es darum, dass alle mitgenommen werden. Kompromiss bis zuletzt. Deshalb gibt es auch kaum evangelische Theologen, die mit scharfen Positionen von sich reden machen. Auch Margot Käßmann wurde erst besonders bekannt, nachdem sie ihre Ämter verloren hatte und danach sehr frei sprach.  

Erik Flügge über die Vor- und Nachteile des synodalen Systems.

Das ist Ansichtssache. Es gibt Theologen, die sich scharf äußern. Wolfgang Huber zum Beispiel.

Flügge: Aber nicht viele. Das hängt damit zusammen, dass evangelische Spitzenfunktionäre wie beispielsweise Bischof Heinrich Bedford-Strohm sich kaum scharf öffentlich äußern und kritische Positionen beziehen können. Bitte machen Sie dem keinen Vorwurf daraus. Ich schätze ihn sehr. Der muss Rücksicht nehmen auf die Synode, bei der er auch beim nächsten Mal eine Mehrheit braucht und immer auf Konsens schauen muss. Man braucht ergänzend befreite Sprecherrollen im Protestantismus, ohne dass sie Macht auf die Kirche direkt ausüben können. Bislang kommen die Protestanten mit ihren Vertretern nicht richtig zum Zuge.

Ansichtssache. Sie wünschen sich eine stärkere Profilierung protestantischer Positionen. Durch ein neues Amt?

Flügge: Es wäre klug, wenn alle Protestanten in einer Urwahl eine Person mit starken Thesen wählen würden. Und sagen: 'Wir geben dir für 5 oder 8 Jahre das Mandat, deine Thesen voranzutreiben, deine Interpretation des Glaubens in die Öffentlichkeit zu treiben, ins TV, in Büchern. Wir geben dir aber nicht die Macht, sie in unseren Strukturen durchzusetzen.' Dann hab ich jemanden, die oder der radikal vordenkt, und andere können sich überlegen, ob sie mit 6,7 Jahren Verzögerung solche radikalen Thesen im synodalen Prozess tatsächlich Realität werden lassen.

Eine Art Bundespräsident also?

Flügge: Ja, eine Art evangelischer Bundespräsident, wo die Wiederwahl ausgeschlossen ist und der nicht an synodale Beschlüsse gebunden ist. Sondern jemand, der sagt, ich trete an, um diese These voranzutreiben. Ohne Kompromiss.

Ihr Entwurf für eine protestantische Kirche der Zukunft wird vielen vor den Kopf stoßen.

Flügge: Ich bevorzuge die Formel: Debatte anregen. Das will ich sicherlich.