Leonardo Boff ist der erste Prominente, der den inhaftierten Ex-Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva im Gefängnis besucht. Den Befreiungstheologen und den Politiker verbindet eine mehr als 30-jährige Freundschaft, trotz ihres sehr ungleichen Lebenswegs. Immer wieder reist Boff, seit Lula seine Gefängnisstrafe wegen Korruption im April angetreten hat, in das südliche Curitiba. "Ich komme mit der Botschaft der Hoffnung auf Gerechtigkeit", sagte er nach einem Besuch im November. Diese Haftstrafe beruhe nur auf Lügen, keinem einzigen Beweis.
Noch nie ließ sich Boff das Wort verbieten - weder vom Vatikan noch von einer brasilianischen Regierung. Der Ex-Priester mit seinem dichten, weißen Bart ist bis heute nicht nur in Brasilien eine wichtige Stimme für linke und soziale Bewegungen. Am 14. Dezember wird er 80 Jahre alt.
Doch es ist keineswegs ruhig um den umtriebigen Katholiken geworden. Er publiziert so viel wie kaum ein anderer Theologe: 60 Bücher und unzählige Artikel hat er veröffentlicht. Sein Thema bleibt dabei die Befreiung der Armen und der Kampf gegen einen entfesselten Kapitalismus, wie er es nennt. "In den vergangenen 40 Jahren hat die Zahl der Armen und Unterdrückten zugenommen. Somit hat die Befreiungstheologie nicht an Bedeutung verloren." Seit etwa 20 Jahren widmet er sich zunehmend der Ökologie, verbunden mit philosophisch-spirituellen Fragestellungen, und spricht von einer "Theologie des Lebens".
1938 im südbrasilianischen Bundesstaat Santa Catarina als Sohn italienischer Einwanderer geboren, tritt Boff 1958 in den Franziskanerorden ein. Ende der 1960er Jahre schloss er sich einer Gruppe von Priestern an, die Armut und Unterdrückung nicht mehr als gottgegeben hinnehmen wollte. Sie wollten eine neue Bewegung schaffen, eine Kirche von unten. Boff und andere Befreiungstheologen begehrten gegen die Dogmen der Kirche auf und gründeten zahlreiche Basisgemeinden - mehr als 100.000 gibt es bis heute in Brasilien.
Die ärgsten Gegenspieler der Befreiungstheologen waren der konservative, aus Polen stammende Papst Johannes Paul II. und Kardinal Joseph Ratzinger, später Papst Benedikt. Als Konsequenz der zermürbenden Auseinandersetzung mit dem Vatikan trat Boff 1992 aus dem Franziskanerorden aus und ließ sich in den Laienstand versetzen. Er habe die Schützengräben gewechselt, aber nicht die Schlacht, sagte er kämpferisch in einem Interview.
Das Verhältnis von Boff und Ratzinger ist ambivalent. Sie kennen sich seit mehr als 40 Jahren, als Boff in Deutschland studierte und zahlreiche Vorlesungen von Ratzinger besuchte. Als Theologe habe er ihn immer sehr geschätzt, sagt Boff. "Wir waren tatsächlich befreundet." Ratzinger habe ihm sogar die Veröffentlichung seiner Promotion finanziert, weil er keinen Verlag gefunden habe.
"Ich möchte während der Arbeit sterben"
Jahre später folgt Phase zwei seines Verhältnisses zu Kardinal Ratzinger, wie Boff es nennt. Ratzinger ist inzwischen Chef der Glaubenskongregation im Vatikan und steht in tiefem Konflikt mit den Befreiungstheologen, die er alle für Marxisten hält. Mehrfach zitiert er seinen alten Freund Boff nach Rom. 1985 wird Boff mit einem einjährigen Lehrverbot ("Bußschweigen") belegt. Als er sich 1991 in mehreren Artikeln kritisch mit dem Zölibat sowie der Hierarchie und der Machtausübung der katholischen Kirche auseinandersetzt, wird er zum fünften Mal gemaßregelt und bekommt eine Disziplinarstrafe auferlegt. Danach zieht Boff die Konsequenzen.
Doch Boff bleibt seinen Prinzipien treu und nimmt einen Lehrauftrag für Ethik, Religion und Ökologie an der staatlichen Universität von Rio de Janeiro an. 2001 erhält er den Alternativen Nobelpreis.
Für Benedikts Nachfolger, den aus Argentinien stammenden Franziskus, hat Boff nur lobende Worte. Und das, obwohl der Papst keineswegs mit den Befreiungstheologen sympathisiert. "Franziskus hat angefangen mit der Reform des Papsttums", lobt er. "Das bedeutet für uns eine Art Frühling, nachdem wir einen sehr scharfen Winter hatten."
Boff lebt in einem ökologischen Reservat in den Bergen nahe der Stadt Petrópolis im Bundesstaat Rio de Janeiro mit seiner Frau, der Menschenrechtsaktivistin Marcia Maria Monteiro de Miranda. "Ich bin in einem Alter, in dem ich oft an den Tod denke. Aber nicht als etwas Dramatisches", sagt er. "Ich möchte wie andere Theologen bei der Arbeit sterben: während einer Vorlesung, während ich einen Text schreibe, dass man bis zum Ende etwas schafft."