Sie verfolgen seit gut drei Jahrzehnten als Hochschullehrer die Ausbildung von Studierenden im Fach "Evangelische Kirchenmusik". Die Bewerberzahlen für Studienplätze in diesem Fach sind bis vor wenigen Jahren ständig gesunken. Inzwischen haben sie sich auf einem abgesenkten Level wieder eingependelt. Was sind die Gründe?
Helmut Fleinghaus: Die Ursachen liegen auf zwei Ebenen. Das eine sind die Folgen von Sparvorgaben aus den 1990er Jahren. Zum zweiten hat die Kirche aus verschiedenen Blickwinkeln einen Imageverlust hinnehmen müssen - ganz abgesehen davon, dass sie eigentlich schon seit 2000 Jahren über den Modetrends steht. Mitgliederschwund wie Geldmangel sind nicht verborgen geblieben. Die Kirche hat Pfarramtsanwärtern und Musikern in spe signalisiert: "Kommt lieber nicht zu uns." Das liegt zum Glück hinter uns.
Nun also Konsolidierung, zumindest im Fach Kirchenmusik?
Fleinghaus: Es gibt immer Wellenbewegungen. Ich beobachte aber häufiger "Überzeugungstäter" unter den Studierenden. Diese Leute äußern: "Ich kann nur Kirchenmusik. Wenn ich daran gehindert werde, gibt es keine überzeugenden Berufsalternativen für mich." Ich sehe darin einen positiven Dogmatismus.
Ist es für angehende Berufsmusiker attraktiv, eine Laufbahn als Kirchenmusiker bzw. Kirchenmusikerin anzustreben?
Fleinghaus: Auf jeden Fall. Auch schon, weil die Stellensituation sehr gut ist. Es gibt ganz viele freie Stellen. Außerdem ist es attraktiv, sehr viel persönlich gestalten zu können. Eigene Programme zum Beispiel, auch eigene Kompositionen, die zur Aufführung gebracht werden, und nicht zuletzt: Hauptberufliche Kirchenmusiker, so erstaunlich das für manche klingen mag, gehören zu den gut Verdienenden im Vergleich mit Musikern im Orchester oder Opernsängern.
Circa zehn Prozent aller Absolventinnen und Absolventen dieses Fachs werden an der einzigen evangelischen Kirchenmusikhochschule in Nordwestdeutschland ausgebildet, am Standort Herford im Bachelor- und Masterstudiengang Kirchenmusik Klassisch, seit 2016 am Standort Witten im Bachelor-Studium Kirchenmusik Popular. Wie verteilen sich die Studienanfänger auf die beiden Optionen?
Fleinghaus: Die Verteilung lässt sich noch nicht stabil beziffern. Die Resonanz auf das neue Angebot ist auf alle Fälle sehr groß. Zurzeit kann nur die Hälfte der Bewerber und Bewerberinnen aufgenommen werden. Ich sehe unter den Studierenden eine bemerkenswerte Ansammlung von Qualifikationen und Motivationen. Unter ihnen sind zum Beispiel eine Unternehmensberaterin, ein Betriebswirtschaftler und ein Maschinenbauingenieur mit Studienabschluss und teilweise auch Berufspraxis.
"Mit Popularmusik holt man nicht mehr Leute in die Kirche"
Warum wurde das Studium der populären Kirchenmusik in Witten, eine zentrale Säule der Evangelischen Pop-Akademie, überhaupt etabliert? War das ein Marketing-Schachzeug der Landeskirchen, die die westfälische Hochschule für Kirchenmusik tragen?
Fleinghaus: Schauen Sie sich doch einmal in Kirchengemeinden um. Sie werden sehen, dass sie nicht homogen sind, dass sie vom Alter her divergieren, dass sie verschiedene Milieus abbilden und dass ihre Mitglieder nicht von denselben musikalischen Interessen bestimmt werden. In der Kirchenmusik ist über lange Zeit die Tradition von Palestrina bis Bach oder die Moderne von Messiaen bis zur Lukas-Passion von Penderecki gepflegt worden. Dadurch sind bestimmte Segmente von Gemeinde bedient worden. Andere hat man aber verwaisen lassen. Als Reaktion hierauf hat es Eigengründungen von Ensembles gegeben, so im Bereich Jazz und Gospel. Wenn man uns und unsere Musikinteressen schon nicht berücksichtigt, so lautet die Argumentation, dann müssen wir es eben selber machen.
Sie kritisieren das?
Fleinghaus: Keineswegs, nur heißt dies aus der Sicht der Ausbildung, ein großes Gebiet entweder dem Laien zu überlassen oder ihm eine Professionalisierung angedeihen zu lassen wie der traditionellen Kirchenmusik auch. Mit Professionalisierung meine ich, Musik auf dem besten erreichbaren Niveau zu machen, wenn man sich auf dieses Terrain wagt. Da wäre oft mehr möglich, als faktisch zu Gehör gebracht wird. Man sollte sich allerdings nicht die Illusion machen, durch Popularmusik würden mehr Leute in die Kirche geholt. Vielmehr geht es um eine musikalisch-fachliche Fundierung einer Wirklichkeit in der Gemeinde, die es ohnehin gibt, nur eben oft als Wildwuchs.
Für Sie ist Popmusik vor dem Altar legitim und keineswegs eine Mode?
Fleinghaus: Wer populäre Kirchenmusik als eine vorübergehende Modewelle verstehen sollte, würde 60 Jahre Musikgeschichte über Bord werfen. Ich erinnere nur an "Danke" von Martin Gotthard Schneider, das Siegerlied beim Wettbewerb der Evangelischen Akademie Tutzing für neue geistliche Lieder 1961.
Ihre Studierenden können sich für Bachelor- und Masterprüfungen sowie Künstlerische Reifeprüfungen und Konzertexamina entscheiden. Welche Voraussetzungen generell sind das wünschenswerte Rüstzeug für Kirchenmusiker in spe?
Fleinghaus: Musikalisch müssen sie in einer Aufnahmeprüfung auf einem bestimmten Niveau Orgel und Klavier spielen und auch ein bisschen improvisieren können. Außerdem wird eine einigermaßen geeignete Stimme verlangt. Hinzu kommen Chorleitung, Gehörbildung und Tonsatz. Was die religiöse Ausrichtung anbetrifft, macht es sicherlich nicht viel Sinn, wenn ein Studierender Atheist ist und die Kirche ablehnt. Als Kirchenmusiker habe ich es nicht nur mit Tönen und Tonarten zu tun, sondern auch mit Gemeindeaufbau. Jede Chorprobe bedeutet immer auch konkrete Gemeindearbeit. Der Kirchenmusiker hat stets einen Teil der Gemeinde vor sich und bemüht sich um deren Verständnis des in Musik gefassten Worts.
"Musik kann bewegen, elektrisieren, zu Tränen rühren. Wenn das funktioniert, kann sie eine kolossale Verstärkung von Text sein"
Sie haben die Orgel unter den Studienanforderungen an erster Stelle genannt. Ist sie eigentlich – denken wir an Albert Schweitzer – das Königsinstrument, das für die theologische Offenbarung durch Musik und ganz praktisch für den Alltag in der Verkündigung qualifiziert?
Fleinghaus: Wir sind daran gewöhnt, dass bestimmte Arten von Musik, etwa ein Choral, zu einem bestimmten Text gehört. Wir verbinden die Orgel fast automatisch mit der Kirche, weil die meisten Orgeln in Gotteshäusern stehen. Es handelt sich dabei um durch Konvention Gelerntes. Musik ist aber emotional, kann unglaublich bewegen, elektrisieren, zu Tränen rühren. Wenn das funktioniert, kann sie eine kolossale Verstärkung von Text sein, also auch von Verkündigung. Manche sagen dann, etwas verkürzend, aber nicht unangebracht: Die Musik verkündigt.
A propos Verkündigung: Der Gottesdienst ist der Ort, an dem die Verkündigung durch das Wort und die Offenbarung durch die Musik zueinanderfinden, im Idealfall als Einheit von Botschaft und Rezeption. Tatsächlich aber fühlen sich Kirchenmusiker häufig gegenüber dem Wort, also dem Pfarrer, nachrangig. Auch Ihre Beobachtung?
Fleinghaus: Ganz klar, Studierende fragen danach, ganz praxisbezogen. In der Regel haben sie ja schon eine nebenberufliche Stelle in der Kirchenmusik und damit konkrete Erfahrungen auch mit dem Verhältnis von Pfarrer zu Kirchenmusiker. Der Pfarrer ist zumeist schon durch Lebensalter und größere Erfahrung einfach überlegen. Hinzu kommt dann noch seine Position. Hat der angehende Kirchenmusiker Pech, hat er es mit einem Pfarrer zu tun, der ihm in das Musikalische hineinredet. Häufig stellt sich das Gefühl ein, nicht fair oder fachlich unangemessen behandelt zu werden.
Im Alltag sind aber die Berührungspunkte gar nicht so eng. Jeder zieht an seinem Strang, und im gelingenden Gottesdienst fügt sich das eine mit dem anderen zu einem Ganzen, oder?
Fleinghaus: Sicher, der Kirchenmusiker soll selbstständig arbeiten und der Pfarrer auch. Wenn beide gemeinsam einen Gottesdienst vorbereiten, müssten sie auf Augenhöhe sein. Nur gibt es hier ein strukturelles Problem. Der Pfarrer ist in vielen Gliedkirchen der EKD Vorgesetzter des Kirchenmusikers, weil er sehr häufig Vorsitzender des Presbyteriums oder Kirchenvorstands ist. So entsteht ein Ungleichgewicht, was auf beiden Seiten sehr viel Toleranz erfordert und beim Vorgesetzten auch Erfahrung in Personalführung. Zusätzlich ergibt sich hier noch ein Problem des Stellensystems, das nach A-, B- und C-Niveau gestuft ist. Es gibt unglaublich viele C-Stellen. In sie sind die Nebenberuflichen, die größte Gruppe der Kirchenmusiker, eingestuft. Viele Pfarrer kennen überhaupt niemanden in A oder B. Stellen Sie sich vor, dass nach vielen Jahren unter den immer gleichen Bedingungen plötzlich ein solcher Geistlicher auf einen B- oder A-Musiker trifft. Das wird dann richtig schwierig.
Lernen Ihre Studierenden auch Kommunikation und Verhalten für Konfliktfälle? Es wäre doch ein Wunder, ließe sich die Streitkultur in der Kirche nicht verbessern...
Fleinghaus: Zum einen halten wir dazu Seminare bereit. Und zum anderen werden solche Konflikte ja auch in den Unterricht reingetragen. Wir bieten jede Menge Einzelunterrichtsstunden. Also kann darüber auch unter vier Augen gesprochen werden. Unsere Absolventen wechseln nicht naiv ins Berufsleben. Vielmehr sind sie gerüstet für Wege, solche Konflikte durchzustehen und aufzulösen. Es geht nicht um ein einfaches Schema: Hier die Pfarrer, die Täter - dort die Musiker, die Opfer. Letztlich muss es um Sachfragen gehen, nicht ums Persönliche.