Auf den ersten Blick scheint die Sache ganz klar zu sein. Alle kennen die Geschichte von Adam und Eva, dem Mann und der Frau - entweder so oder so hat Gott uns eben gemacht, könnte man meinen. Aber diese Lesart der Schöpfungsgeschichte ist zu einfach. "Da machte Gott der Herr den Menschen aus Staub von der Erde und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen." (1. Mose 2,7). Das ist Adam, der Mensch, der "Erdling". Von Adams Geschlecht steht da erstmal nichts. Hat er keins? Oder mehrere? Weil Adam sich allein fühlt, wird ein zweites Menschenwesen geschaffen. Doch davon, wie unterschiedlich sie angeblich sind, merken die beiden nichts. Im Gegenteil, sie freuen sich über ihre Ähnlichkeit: "Da sprach der Mensch: Die ist nun Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch …" (1. Mose 2,23).
Dann kommt die Geschichte mit dem Baum, der Schlange und dem Apfel: Die beiden Menschenwesen übertreten Gottes Gebot, und danach erst fangen die Probleme an. "Zur Frau sprach er (Gott): (…) Dein Verlangen soll nach deinem Mann sein, aber er soll dein Herr sein. Und zum Mann sprach er: (…) Verflucht sei der Acker um deinetwillen! Mit Mühsal sollst du dich von ihm nähren dein Leben lang." (1. Mose 3, 16-17) So sind die Erfahrungen, die Menschen machen und gemacht haben, offenbar schon damals, als diese Geschichte aufgeschrieben wurde: Erfahrungen von Ungleichheit zwischen Männern und Frauen, von schwierigen Verhältnissen, in denen beide leben. Die Geschichte zeigt auch: Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind nicht nur natürlicher Art, sie sind auch von der Kultur abhängig. Eine Gesellschaft entwickelt bestimmte Bilder von "Männlichkeit" und "Weiblichkeit". Das "zweigeschlechtliche Sehen", so die Theologin Isolde Karle, haben wir gelernt und können es nicht wieder verlernen.
"Was ist es denn?", werden Eltern nach der Geburt ihres Kindes gefragt. Auch das haben wir gelernt: das Geschlecht eines Menschen auf einen Blick an den äußeren Geschlechtsorganen abzulesen. Mädchen oder Junge, scheinbar eindeutig. Doch was sollen Eltern antworten, wenn die Genitalien ihres Babys nicht eindeutig sind? Heute wissen die Bio- und Neurowissenschaften: Das Geschlecht eines Menschen zu erkennen, ist längst nicht so einfach, es ist noch nicht einmal an "eindeutigen" Genitalien ablesbar. Während der Schwangerschaft wirkt Testosteron in unterschiedlichen Zeitabschnitten auf die Entwicklung des Fötus ein. In einer frühen Phase bilden sich die Geschlechtsorgane aus, in einer späteren Phase erst das Gehirn. "Das wichtigste Sexualorgan sitzt zwischen den Ohren", hat der amerikanische Sexualwissenschaftler Milton Diamond formuliert. Viele Menschen erkennen für sich: In die vereinfachenden zwei Kategorien "Mann" oder "Frau" passe ich nicht hinein.
Warum aber, so werden manche einwenden, steht denn in der ersten Schöpfungsgeschichte: "Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau." (1. Mose 1,27)? Klingt doch eindeutig. Hat Gott etwa nicht gewusst, was die Neuro- und Biowissenschaften heute wissen? Oder macht er Fehler bei der Dosierung der Hormone? Nein, kein Mensch ist ein "Fehler". Ein Blick ins Hebräische lohnt sich, da steht nämlich: "… und schuf sie männlich und weiblich". Der Theologe Gerhard Schreiber schlägt vor, das so zu verstehen wie die Schaffung von Tag und Nacht. Dazwischen gibt es die Abenddämmerung und die Morgendämmerung. So gibt es auch den Geschlechtern zwar zwei Muster, aber auch noch vieles dazwischen. Von einem krassen Gegensatz zwischen Mann und Frau oder von einer zwingenden gegenseitigen Ergänzung der beiden Geschlechter kann man in dem berühmten Bibelvers nichts lesen.
Leider wird die Formulierung "und schuf sie als Mann und Frau" in Theologie und Kirche bis heute missverstanden. Das zweigeschlechtliche Modell, scheinbar "natürlich", wird theologisch überhöht und als Norm gesetzt: Gottes Gebot sei es, dass Menschen so (und nur so!) leben sollen, als Mann und Frau zusammen, am besten mit Kindern. Doch wer darauf besteht, dass es auf die Fortpflanzungsfähigkeit ankomme, argumentiert nicht theologisch. Wer "Mann und Frau" als einzig legitime Lebensweise herausstellt, diskriminiert außerdem alle, die nicht so leben wollen oder können. Das kann nicht gemeint sein. Es gibt keine "Schöpfungsordnung", die auf "Mann und Frau mit Kindern" festzulegen wäre.
Der Vers 1. Mose 1,27 spricht von der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Die besteht nicht im Zusammenleben von "Mann und Frau", sondern ist vor dem Hintergrund der altorientalischen Kulturen zu verstehen, in denen Kultbilder die Gottheiten repräsentieren. In Ägypten wurde der König als "Bild des Sonnengottes" bezeichnet, als sein Vertreter übt er die Herrschaft aus. Wenn es nun im ersten Schöpfungsbericht der Bibel heißt: "Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau", dann meint das: Alle Menschen repräsentieren Gott, nicht nur der König oder eine Statue. Alle, ob männlich oder weiblich oder dazwischen, herrschen gemeinsam über die Erde. Darin steckt die Idee von Gleichheit und Demokratie, meint Isolde Karle.
Die Formulierung "männlich und weiblich" aus 1. Mose 1,27 wird im neuen Testament wörtlich aufgenommen, nämlich im Galaterbrief in einem Abschnitt über die Bedeutung der Taufe: "Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus." (Galater 3, 27-28) Zum ersten und einzigen Mal im Neuen Testament wird hier die Aussage getroffen, dass es auf das Geschlecht der Menschen nicht ankommt. Dieser Gedanke war radikal und revolutionär zur Zeit der ersten christlichen Gemeinden. Vielleicht war es eine reale Erfahrung der Getauften: Es gab keine kulturellen oder sozialen Unterschiede mehr für die, die zu Christus gehörten.
Vielleicht ist es aber auch eine Utopie des Apostels Paulus: Getaufte gehören zu Gottes neuer Welt, in der wir befreit sind von allem, was uns einengt, und in der wir das "zweigeschlechtliche Sehen" endlich verlernen. Die Theologin Ruth Heß stellt die These auf, dass wir im Himmel an unserem "Auferstehungsleib" (1. Korinther 15) unser wahres Geschlecht erst richtig erkennen. "Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin." (1. Korinther 13,12). Dann sehen wir uns selbst so, wie Gott uns sieht, und erkennen, wie einzigartig jeder Mensch ist. Alle machen dann ihr Kreuzchen bei "divers" - wie Adam, der Erdling.