Für Alexander Gauland ist die "Alternative für Deutschland" keine christliche Partei, wie er 2016 auf Nachfrage sagte. Und Anfang des Jahres recherchierte der SWR, dass die Plattform "Christen in der AfD" bei circa 28.000 AfD-Parteimitgliedern anscheinend nur rund 130 Köpfe zähle. Und trotzdem gibt es einige Themen, bei denen rechte Strömungen Zuspruch unter Christen suchen und finden: dazu zählen laut einer Infobroschüre der Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus Familienthemen (vom Abtreibungsrecht über den Stammzellenbeschluss 2007), die Politik gegenüber Frauen und Homosexuellen (vor allem die "Ehe für alle") sowie die Angst vor Überfremdung, vor dem Islam und vor dem Verlust der christlichen Identität.
Um dem begegnen zu können, müsse man laut Volker Heins, Professor an der Universität Duisburg-Essen, erst einmal verstehen, wovon die Rede sei, wenn man von der sogenannten "Neuen Rechten" spreche: "Sie pflegen eine bestimmte Art des Neo-Liberalismus und Anti-Etatismus, arbeiten in vielen Fällen statt mit offener Hetze mit Andeutungen in einer indirekten, codierten Sprache und ihre mentale Basis ist die einer systemfeindlichen Passivität", fasst Heins auf der Tagung "Konflikt und Diskurs. Zum Umgang der evangelischen Kirche mit rechtpopulistischen Strömungen" in Schwerte zusammen und betont, dass die "Neue Rechte" gerade nicht auf den Typus "Massenmobilisierung" setze. Sie sei auch nicht - wie der historische Faschismus - auf eine Zerstörung der Demokratie durch revolutionäre Gewalt aus, sondern sie vergifte das politische System von innen. "Ein Symptom dieser Vergiftung ist die Sprachlosigkeit der Gesellschaft, die nicht weiß, wie sie damit umgehen soll", erläutert Heins.
Seiner Ansicht nach lehnt die "Neue Rechte" die liberale Demokratie auch nicht per se ab, sondern sie versuche das Staatsvolk nur auf ein "spezielles Volk, auf die 'richtigen' Deutschen" zu begrenzen. Dieses Phänomen hat auch der Politische Bildner und Publizist Richard Gebhardt beobachtet: "‘Wer Deutschland nicht liebt, soll es verlassen.‘ Für dieses Volk, das so denkt, spricht der Populismus." Daran habe sich auch die Alternative für Deutschland orientiert, als sie ein Wahlplakat mit dem Slogan "Wir holen dir dein Land zurück" kreiert hat. Gebhardt zufolge inszenieren sich die "Neuen Rechten" selbst in der Tradition des Widerstands: "In ihrer Wahrnehmung sind sie diejenigen, die den linksgrünversifften Gutmenschen und Kirchentagsgängern sagen, was sie nicht hören wollen." Ganz nach dem orwellschen Motto: "Freiheit ist das Recht, anderen zu sagen, was sie nicht hören wollen." Das passt auch in das rechtspopulistische Weltbild: nach dessen Logik steht "der kleine Mann" oder "das Volk" im Inneren dem "Establishment" oder denen "da oben" gegenüber, von außen drohen soziale, ethnische oder religiöse Minderheiten wie Muslime, Asylsuchende, Migranten, LGTBQ, Juden. So klassifiziert es die Bundeszentrale für politische Bildung in ihrem Dossier über Rechtspopulismus.
Bei allen Unterschieden zwischen dem historischen Faschismus und den neuen rechten Strömungen dürfe man jedoch auch nicht die vorhandenen Gemeinsamkeiten übersehen. "Das sind vor allem ihr Rassismus und die Kultivierung der Mitleidlosigkeit, die Verpanzerung gegen jegliche Empathie", so Volker Heins. Es gebe zwar keine genuine Anknüpfung an den Nationalsozialismus, aber bei der "Neuen Rechten" seien auch nicht gerade innovative Geister unterwegs, schlussfolgert Heins.
Die Bedeutung dieses Themas unterstreicht Annette Kurschus, Präses der Evangelischen Kirche Westfalens, in ihrer Rede: "Die Auseinandersetzung mit dem Rechtspopulismus ist wohl eine der zentralen Aufgaben, die uns die Gegenwart stellt." Und in vielen einzelnen kirchlichen Projekten und Initiativen, so Präses Kurschus, werde die Auseinandersetzung mit diesem Thema bereits wirksam geführt - fernab der Scheinwerfer und der medialen Aufmerksamkeit. "Die Fragen und Probleme, die der Rechtspopulismus zwar vorgibt zu adressieren, zu deren Heilung er aber gerade keinen Deut beitragen will, sondern die er übersteigert und verzerrt, weil er sich an ihnen nährt, werden hier tatsächlich angegangen und bearbeitet", so Kurschus. Und gerade weil der Rechtspopulismus sich immer gegen die Anderen, gegen Geflüchtete, Ausländer und gegen Juden wende, müsse es von der Kirche eine klare und eindeutige Reaktion geben - obwohl sich die Kirche sonst direkter parteipolitischer Intervention enthält.
Eine solche Reaktion ist der Doppelbeschluss des Kirchentages, keine AfD-Politiker auf die Podien einzuladen. Das sieht Präses Kurschus nicht als Widerspruch zu ihrer Haltung, dass die Kirche lernen müsse, Konflikte zu führen, die Auseinandersetzung mit Rechtspopulisten nicht scheuen dürfe und beweisen müsse, dass Gesprächsfähigkeit und Klarheit keine Gegensätze seien. "Wir haben die Fragen auf dem Kirchentag ja nicht ausgeschlossen. Und vielleicht fällt das Gespräch wegen dieses Beschlusses ja sogar heftiger aus, wer weiß. Aber dem stellen wir uns", beteuert sie. Man wolle der "Sprache der Ausgrenzung" eine "Praxis des Involvierens" entgegensetzen. Aber: "Mit denen, die das demokratische System in seinem Kern angreifen möchten, gilt es nicht, den Dialog zu suchen, sondern ihnen ist entschieden entgegenzutreten."
Annette Kurschus wünscht sich in ihrer Kirche das, was der Theologe Jürgen Moltmann als "eine Streitkultur mit Entschlossenheit und Respekt" bezeichnet hat, weil "in einem Streit mehr Wahrheit enthalten sein kann als in einem toleranten Dialog". Die Kirche ist aus Kurschus' Sicht eben nicht die Gemeinschaft derer, die sich ohnehin schon immer einig sind und das dürfe auch nicht das heimliche Selbstbild sein. Man sei auch nicht die Gemeinschaft derjenigen, die ohnehin Recht haben. "Die Kirche ist die Gemeinschaft derer, die sich auf Christus gründen. Das lässt vieles zu, und es schließt manches aus", so die Präses.
Kritik an der Konsenskultur der Kirche übt auch Christian Staffa von der Evangelischen Akademie zu Berlin. Denn den Konsens gebe es in Wirklichkeit gar nicht - es wirke nur so, weil vieles nicht gesagt werde. "Und das können wir uns nicht leisten. Wir müssen uns streiten", fordert Staffa. Streitpunkte abwiegeln, andere Meinungen verstummen lassen - das gehöre für ihn nicht zur Verteidigung einer Institution. Eine Institution verteidige man, in dem man sie weiterentwickelt.
"Warum seid ihr eigentlich überrascht?", fragt Staffa. Die Einstellungsebene sei in den vergangenen 30 Jahren relativ stabil die gleiche geblieben, man kenne rechtspopulistische Äußerungen als Pfarrer oder Ehrenamtlicher in der Kirche von Besuchen und aus vielen Gesprächen. "Mit selbstberuhigenden Argumenten haben wir dieses Phänomen kleingeredet. Erst jetzt, wo sich die Äußerungsformen radikal verändert haben, erkennen wir das Problem an", sagt Staffa.
Er hält fest: Kirche und Christen sind in unterschiedlicher Anzahl an gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, zum Beispiel gegenüber Juden, Sinti und Roma, gegen Muslime, Homosexuelle oder generell gegen "Andere", beteiligt. Es ist ein Phänomen der Mitte - auch der institutionellen Mitte der Kirche. "Wir sind nur Teil der Lösung, wenn wir verstehen, dass wir Teil des Problems sind", erklärt Staffa. In kirchlicher Selbstzufriedenheit klopfe man sich jedoch gegenseitig auf die Schulter und bestätige sich: "Wir sind die Guten." Dabei müsse man sich bewusst machen, dass man eben nicht nur gut sei. Christian Staffa fordert eine theologische Reflexion über den Umgang mit dem Nächsten und mit sich selbst.
Es werde fast permanent nur über die Sorgen und Ängste weißer Männer mittleren Alters gesprochen - welche Sorgen und Ängste andere Menschen, zum Beispiel Flüchtlinge und Migranten haben, bliebe unerwähnt. Das sei auch im EKD-Papier "Konflikt und Konsens" nicht anders: "Gerade weil wir die Rechte von geflüchteten und zugewanderten Menschen achten und einfordern, wollen wir die Sorgen der Menschen hören und würdigen, die sich im politischen Leben unseres Landes nicht vertreten fühlen." Geflüchtete haben Rechte - Deutsche haben Gefühle, so fasst Staffa diesen Satz aus der EKD-Schrift kritisch zusammen und bezeichnet ihn als "Desaster". "Wenn die Kirche öffentlich über Ängste und Sorgen redet, dann muss sie denen sagen: Eure 'Sorge' tötet. Das sind die Toten durch rechte Gewalt", sagt Staffa.
Zusätzlich müsse deutlich gemacht werden, dass Angst und Sorge Sünde seien, weil sie sich nur um sich selbst drehen würden, in sich verkrümmt und nicht biblisch seien. Es fehle die Orientierung an Gott. "Die biblische Theologie ist keine der Angst, so soll es gerade nicht sein unter uns Menschen. Sie ist eine Theologie des Zuspruchs", argumentiert Staffa. 365 Mal heißt es in der Bibel "Fürchtet Euch nicht" und auch Paulus hat seinem Täufling Timotheus Mut zugesprochen, als er sagte: "Denn Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit." (2. Tim 1,7) Das gelte auch im Zusammenhang der Flüchtlingsdebatte. "Biblisch gesprochen ist Migration die Mutter aller Entwicklung", so Staffa mit einem Seitenhieb auf die Aussage des Innenministers Horst Seehofer, dass Migration die Mutter aller Probleme sei.
Als konkrete Antwort auf die Frage, was die Kirche dem Rechtspopulismus entgegenzusetzen haben, verweist Präses Annette Kurschus schließlich auf das Evangelium und zitiert den Berliner Bischofs Markus Dröge: "Einer Bewegung, die Angst verstärkt und zur Wut aufstachelt, haben wir das frohe und hoffnungsvolle Evangelium Jesu Christi entgegenzusetzen. Das Evangelium weckt Glauben, schenkt Hoffnung und motiviert zur Nächstenliebe." Konkret bedeute das unter anderem, dass man Vertrauen in Gott haben soll, Verantwortung für die gute Weiterentwicklung der Gesellschaft in herausfordernden Zeiten übernimmt, in dem man Lösungen und Perspektiven für die Probleme entwickelt und sich für die Schwächsten einsetzt.