Menschen im Gespräch bei Deutschland spricht in Berlin
Alexander Probst/Zeit Online
Zwei Menschen im Gespräch bei "Deutschland spricht 2018" in Berlin.
Deutschland spricht: Die Filterblase in unserem Kopf
Mehr als 8.000 Menschen haben sich bei "Deutschland spricht" zum Gespräch mit politisch andersdenkenden Menschen getroffen. Die Aktion ist ein Erfolg, der in ganz Europa Wellen schlägt: Als nächstes spricht Österreich.

Jochen Wegner brachte es auf den Punkt: "Die Filterblase ist nicht im Internet, sie ist in unserem Kopf." Wegner ist Chefredakteur von Zeit Online und hatte gemeinsam mit seinem Team zur Feier von "Deutschland spricht" nach Berlin eingeladen, um diese Filterblasen zumindest ein bisschen platzen zu lassen: Mehr als 8.000 Menschen haben sich bei "Deutschland spricht" darauf eingelassen, mit Andersdenkenden zu sprechen.

50 der Zweier-Paare waren zum Gespräch miteinander nach Berlin eingeladen, insgesamt 600 geladene Gäste, darunter auch Medienvertreter von Alaska bis Österreich und der Schirmherr der Aktion, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Er lobte das Format dafür, "die Klischees und Komfortzonen in diesem Experiment hinter uns zu lassen". Der Bundespräsident rief dazu auf, die Gräben und Mauern in der Gesellschaft zu überwinden. "Unser Land ist derzeit nicht in Vielfalt vereint. Eher scheint unser Land dieser Tage vielfach geteilt", sagte Steinmeier.

Gruppenbild mit Bundespräsident: die eingeladenen Gesprächspaare mit Steinmeier in Berlin.

Zuhören und gehört werden ist ein Grundbaustein der Demokratie. Darüber sprachen auch vier Menschen, die ihre eigenen Erfahrungen damit gemacht haben: die drei Kolumnisten Sascha Lobo, Harald Martenstein und Mely Kiyak und die YouTuberin Eva Schulz (Deutschland 3000). Lobo zog eine scharfe Linie in den Dialog und bekräftigte seine These, dass in einer liberalen Demokratie auch klar sein muss, dass bestimmte Meinungen nicht zulässig sind: "Es gibt Sphären, die nicht diskutierbar sind", sagte Lobo, der ein Jahr lang selbst möglichst viel mit Extremisten im Netz den Dialog gesucht hat.

"Sie geben dieses Land nicht auf!"

Eva Schulz schloss die Frage an, warum es als Schwäche gelte, wenn man sich in einer Diskussion auch mal überzeugen lässt: "Ist das nicht eigentlich eine Stärke?" Und selbst wenn das nicht gelingt, könne man sich immer beim kleinsten gemeinsamen Nenner treffen. Eine Haltung, die Mely Kiyak mit dem besten Impuls des Tages nicht unbedingt teilte. "Im Moment ist es so: Wer unversehrt bleiben will, hält die Klappe und zieht sich zurück." Wer bei "Deutschland spricht" mitmache, der traue sich was: "Ganz gleich, ob Ihr Interesse an Ihrem Gesprächspartner persönlich oder politisch motiviert ist: Sie geben dieses Land nicht auf! Sie geben Ihren Mitmenschen, der mit seiner Meinung in fundamentaler Opposition zu Ihnen steht, nicht auf. Das ist die höchste und edelste Form des Widerstands. Denn es herrschen gerade ungute politische Kräfte, die nicht mehr wollen, dass wir uns füreinander interessieren. Die wollen, dass wir uns entfremden, damit sie uns mit ihrer Politik auseinanderdividieren können."

Dagegen stellten sich etwas mehr aus 20.000 Menschen, die sich bei 11 Medienpartnern - darunter auch evangelisch.de und chrismon - für "Deutschland spricht" registrierten. Am Ende waren es mehr als 8.000 bestätigte Teilnehmende, die miteinander reden wollten. Auch wenn das nicht bei jedem Einzelnen tatsächlich geklappt hat, ist die Idee ein Erfolg: "Zeit Online" ist es gelungen, mit "Deutschland spricht" ein kleines Fest der Demokratie auf die Beine zu stellen. (Mehr Statistik bei Zeit Online.) Davon sind 39 Partnermedien aus 14 Ländern weltweit so sehr überzeugt, dass sie "My country talks" - "Mein Land spricht" - auch bei sich umsetzen wollen. Am 13. Oktober spricht zum Beispiel Österreich, es folgen die Schweiz, Italien, Norwegen, Tschechien, Alaska und Australien. Vor der Europawahl 2019 zielt "Zeit Online" darauf, ganz Europa ins Gespräch zu bringen.

Überall lassen sich Menschen motivieren, die Filterblase in ihrem Kopf aktiv zu verändern, oder es jedenfalls zu versuchen. Einer von ihnen war dieses Jahr der 45-jährige Sasha Rosinski. Er hat sich über die unpolitische "Scheiß-egal-Haltung" geärgert, die er bei vielen Menschen beobachtet, und wollte das Gespräch suchen. "Mein Gesprächspartner war dann zwar nicht unpolitisch, aber es hat sich trotzdem ein intreressantes Gespräch ergeben", erzählt er. Bei einigen Themen wie zum Beispiel Donald Trump seien sie einer Meinung gewesen, bei anderen Themen wie der Kriminalität unter Geflüchteten habe jeder auf seinem Standpunkt beharrt. "Das ist auch nicht sonderlich überraschend, schließlich haben sich unsere politischen Ansichten zum Teil über lange Zeit entwickelt, die schmeißt man nicht nach einem Gespräch über den Haufen", sagt Rosinski. Besonders beeindruckt habe ihn, dass sein Gegenüber trotz seines hohen Alters immer noch politisch sehr aktiv sei: "Er könnte sich ja auch zurücklehnen und sagen, dass ihn das eh nicht mehr betrifft, aber gerade das macht er nicht."

Joachim Brockpfähler engagiert sich seit 2015 in der Flüchtlingshilfe und bezeichnet sich selbst als "Brückenbauer". Als solcher wollte er die Gelegenheit nutzen, mit anderdenkenden Menschen ins Gespräch zu kommen: "Ich habe das Gefühl, dass ein Riss durch die Mitte unserer Gesellschaft geht. Und um den wieder zu überwinden, müssen wir mehr miteinander reden", sagt der 56-Jährige, der in Dresden lebt. Mit seinem Gesprächspartner sei er sich jedoch weitgehend einig gewesen. "Bei manchen Themen lagen unsere unterschiedlichen Ansichten am Altersunterschied. Er könnte schließlich mein Sohn sein", erzählt Brockpfähler. Auch wenn er eher Einigkeit im Gespräch erlebt hat, hält er die Aktion für gelungen. Mit seinem Gesprächspartner hat er sich sogar so gut verstanden, dass sie den Kontakt halten wollen. Sie planen jetzt selbstorganisierte weitere Treffen mit Menschen, die eine andere politische Haltung vertreten.