Jugendliche arbeiten in der Schreinerei des Lernbetriebs Frankfurt unter der Aufsicht von Schreinermeister Holger Spitzkopf an einem Kleiderschrank.
epd-bild / Thomas Rohnke
Berufliche Schnupperkurse für junge Menschen stehen hoch im Kurs: So können 18- bis 27-Jährige in Bremen ab Herbst den Orientierungskurs "Segel setzen" belegen, im Lernbetrieb Frankfurt werden Jugendliche jetzt schon mit mehreren Arbeitsbereichen vertraut gemacht.
Eigene Stärken und Schwächen finden
Schule, Lehre oder Studium, arbeiten in dem einen Beruf bis zur Rente. So oder ähnlich war Arbeits- und Berufsbiografie bis vor ein paar Jahren gestrickt. Doch so ist es längst nicht mehr. Der Weg zum Traumberuf ist mit Umwegen verbunden.

Zudem weisen viele Menschen heute viele Berufe und Tätigkeiten in ihrem Lebenslauf nach. Das macht den eigenen Start ins Arbeitsleben für die heute 18- bis 27-Jährigen oftmals schwierig. Ihnen möchten das Evangelische Bildungswerk Bremen sowie als Partner die Evangelische Jugend Bremen mit dem Projekt "Segel setzen" Perspektiven zeigen und Halt geben. Darüber sprachen wir mit Bildungswerk-Leiter Dieter Niermann.

Was bedeutet "Segel setzen"?

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Dieter Niermann: Es gibt immer wieder die Situation, dass junge Erwachsene den Start in ihre Beruflichkeit mit ein paar Schleifen verbinden. Das hat mit verschiedenen Dingen zu tun, führt aber letztlich dazu, dass der wirkliche Plan für die Zukunft nicht so schnell getroffen ist. Die jungen Leute entwickeln unterschiedliche Strategien: Sie erlernen einen Beruf oder fangen an zu studieren. Sie merken dann: Es ist doch nicht das Richtige. Entweder brechen sie ihr Studium beziehungsweise die Ausbildung ab – oder sie wissen schon währenddessen, dass sie nie in diesem Beruf arbeiten werden. Andere kommen aus dem Ausland zurück oder dem Freiwilligen Sozialen Jahr und haben es auch noch nicht klar, was aus ihnen werden soll.

Sie haben es eben schon anklingen lassen: Dass junge Menschen einige Schleifen drehen, ist eine gesellschaftliche Entwicklung. Welche ist es genau?

Dieter Niermann: Es hat erst einmal damit zu tun, dass Arbeit vielfältiger geworden ist. Klassische Unterscheidungen zwischen Industrie, Dienstleistungen und Handel kann man gar nicht mehr treffen. Und viele Berufsausbildungen sind erst einmal gar nicht berufsbildend. Vor allem viele Studiengänge sind es nicht mehr, sodass man sagen kann: "Du studierst das, am Ende bist Du dies und am Ende arbeitest Du dort." Das ist das eine. Das Andere: Beruflichkeit ist nicht nur unübersichtlicher geworden, sondern ist auch im Stellenwert gestiegen. Der Anspruch der Menschen an ihren eigenen Beruf ist höher geworden: Er soll sie glücklich und selig machen, er soll mit der Familie vereinbar sein und er soll ihnen Aufstiegschancen bieten. Die Gesellschaft hat das beruflich Tätig sein immer mehr überhöht. Von der anderen Sichtweise, dass Geld müsse ja irgendwo herkommen, um an anderer Stelle glücklich zu sein, hat sie sich weg entwickelt. Dies sind zwei Entwicklungen, die sich negativ ergänzen. Sie machen es für die jungen Menschen schwerer, sich zu entscheiden, was man will.

"Es geht um Rituale"

Was erwartet die Teilnehmer in den zwölf Wochen des Projekts? Was sind die Inhalte?

Dieter Niermann: Bei manchen Inhalten wird sich manch einer fragen: Was hat das mit Berufsorientierung zu tun? Aber jeder dieser Inhalte ist uns wichtig. Es sind zwölf Wochen, die Berufsorientierung immer wieder in den Blick nehmen. Dabei geht es um das Entdecken eigener Stärken und Schwächen, es gibt ein kleines Forschungsprojekt mit der Universität Bremen über Berufsbiografien. Die Teilnehmer sollen ein Verständnis dafür bekommen, dass Beruflichkeit nicht gradlinig sein muss, sondern, im Gegenteil, nur noch in Schlangenlinien existiert. Es gibt dann aber auch Inhalte über Wohn- und Lebensformen: Wie möchte ich später Leben? Projektmanagement ist ein Block, der auch mit der Praxis verbunden sein wird. Und es geht um Rituale – vor allem deshalb, weil Struktur eine wichtige Frage ist: Wie finde ich eine Struktur, in der ich mich aufgehoben weiß? Gerade die jungen Leute, die aus mehreren Übergangssystemen kommen, fehlt Struktur. Und es gibt etwas über eigene Herausforderungen.

Das hört sich erst einmal nach klassischer Berufsorientierung an. Erklären Sie doch bitte den evangelischen Ansatz.

Dieter Niermann: Ich fange mal anders herum an. Bei der Frage nach einem Titel haben wir uns ganz schön schwer getan. Dabei transportieren wir ja auch schon inhaltlich etwas. Es geht darum, den Leuten Tools an die Hand zu geben, damit sie hinterher letztlich ihre Segel setzen und Fahrt aufnehmen können. Wohin, diese Entscheidung können wir ihnen nicht abnehmen. Auch da sind wir nicht besser als die anderen Stellen, die Leuten sagen wollen: "Das wäre super für Dich." Wir wollen aber ein kritisches Potenzial schaffen, damit die Teilnehmer sagen können: "Jau, jetzt bin ich gut gerüstet, um Fahrt aufzunehmen."

Dahinter steckt ein Bild aus der Erlebnispädagogik – jetzt robbe ich mich so langsam an die Frage: Warum Kirche? Outward Bound ist ein internationaler Träger für Erlebnispädagogik. Die haben diesen Begriff aus der Seglersprache übernommen. Das ist ein Schiff gewesen, was am Ausrüstungskai alles an Bord bekommen hat: Holz für Reparaturen, Trinkwasser, Lebensmittel oder auch neues Segelzeug. Es wurde praktisch mit allem ausgerüstet, was es brauchte, um monatelang auf dem Meer autark zu sein. Und auch, um für Situationen gewappnet zu sein, die man sich vorher nicht ausmalen kann. Wenn ein Schiff ausgerüstet war, verholte man ein anderes Kai. Dann hieß dieses Schiff "Outward Bound", für auswärts bestimmt. Das ist unsere Vorstellung: Diese zwölf Wochen eignen sich, um den Leuten Tools, Hintergrunderfahrung, Wissen sowie Vertrauen in sich selbst und die eigene Handlungskompetenz an die Hand zu geben – um dann wohin auch immer zu segeln.

Dahinter steckt die Vorstellung, dass nicht so funktional anzugehen: Wir testen mal sieben verschiedene Sachen bei Dir ab, und dann sagen wir Dir, welchen Beruf Du ergreifen solltest. Wir sagen vielmehr: Du bist ein Geschöpf Gottes, das hat Leib und Seele, das hat in sich Brüche, das hat in sich Sehnsüchte und das ist ein Wesen, das es verdient die Chance zu haben, immer wieder neu anzufangen. Dazu musst Du aber auch das Vertrauen dazu haben, dass Dir das gelingen kann. Es ist immer noch kein Beinbruch, dass ich jetzt 23 bin und immer noch keinen Beruf habe. Meine Mama findet das vielleicht scheiße, dass ich noch nicht aus dem Quark gekommen bin. Aber ich werde das schaffen. Das ist ganz wichtig! Wir arbeiten nicht mit der Vorstellung, da kommen die ganzen Loser, die es irgendwie noch nicht gebacken bekommen haben, sondern die für sich sehr ernsthaft gucken wollen: Wo möchte ich hin?

Das heißt, es kann jemand sein, der aus dem Ausland zurück kommt, es kann aber auch jemand sein, der drei Mal die Schule abgebrochen hat?

Dieter Niermann: Genau. Es kann der sein, der sein Studium angefangen und abgebrochen hat. Oder derjenige, der jetzt eine Berufsausbildung macht und es immer noch nicht weiß oder der, der ein Freiwilliges Soziales Jahr absolviert hat und gesagt hat: "Das war eine tolle Erfahrung. Ein Jahr mal was anderes, aber eben immer das gleiche Andere. Das Stichwort heißt "Ein Wintersemester für Dich selbst". Wir zeigen den Teilnehmern in komprimierter Form die unterschiedlichen Aspekte seines Lebens auf. Da passiert ganz viel.

"In Skandinavien gibt es auch das Recht eine Pause zu machen"

Woher stammt die Idee zu "Segel setzen"? War der erlebnispädagogische Ansatz der einzige?

Dieter Niermann: Zwei, drei Wochen des Angebots darin und der Titel sind von der Erlebnispädagogik inspiriert. Es ist so: In Skandinavien gibt es eine andere Kultur. Dort gibt es auch das Recht eine Pause zu machen. Für ein halbes Jahr steige ich aus, der Staat garantiert mir meinen Arbeitsplatz. Dafür gibt es extra Erwachsenenschulen. Sie sind mit unseren Heimvolkshochschulen vergleichbar. Die Menschen besuchen sie und machen etwas völlig anderes als in ihrem Job. Das bedeutet, das Recht auf Bildung im Lebenslauf gibt es dort und ist üblich. Das gibt es bei uns gar nicht. Das ist die persönliche Aufgabe, man muss sich selbst weiterbilden. Oder die Firma sagt es. Aber dass es ein gesellschaftlicher Wunsch ist, gibt es bei uns nicht.

Aus dieser Kultur heraus stammt von Nikolai Frederik Severin Grundtvig, einem der Begründer der Erwachsenenbildung, ein Konzept, was so ähnlich gestrickt ist. In Deutschland gibt es dafür nur die Heimvolkshochschule Hermannsburg, die dieses Konzept seit 50 Jahren anbieten. "Winterkurs" heißt es bei denen. Für junge Erwachsene von 18 bis 25 Jahren gibt es dort "moving times – Zeit für Veränderungen". Das alles findet auf dem Campus in der Lüneburger Heide statt. Die Hürde und die Chance: Man wohnt da 16 Wochen zusammen. Das ist Internatsbetrieb mit nichts drumherum. Es produziert noch ganz andere Prozesse, es schreckt aber auch viele Leute ab, die eigentlich Interesse hätten: 16 Wochen alles andere vernachlässigen – meine Hobbies, meine Kontakte – möchte ich eigentlich nicht.

Wir hatten die Idee, in einem Sozialraum wie Bremen mit seiner Überschaubarkeit und seiner Substanz zwölf bis 15 Leute zu generieren, die genau das wollen und bereit sind, das "ambulant" zu machen. Sie kommen montags bis freitags meistens morgens ins Forum Kirche und gehen nachmittags wieder nach Hause. Während des Projekts gibt es nur drei Intensivwochen auswärts: eine am Start, eine am Ende und eines kurz vor Weihnachten im Kloster Nütschau. Diese soll auch der Einkehr dienen. Es ist ein Kommen und gehen. Wer danach noch jobben will, seine Freunde treffen möchte oder Fußball spielen will, kann es tun. Jeder bleibt in seinen sozialen Bezügen, aber geht täglich dahin und bekommt eine Struktur und jede Woche ein neues Thema qusi vor die Füße geworfen.

"So wie "Segel setzen" gestrickt ist, gibt es wenig Vergleichbares"

Wie wird "Segel setzen" finanziert?

Dieter Niermann: Wir finanzieren das aus zwei Töpfen: aus Mitteln des Evangelischen Bildungswerks und über unseren Partner, die Evangelische Jugend Bremen. Sie hat als anerkannter Jugendverband ja das Mandat, in dieser Altersgruppe aktiv zu sein. Einzelne Bausteine des Projekts werden entsprechend mit Geld der Evangelischen Jugend gefördert. Darüber hinaus gibt es einen Eigenanteil der Teilnehmenden. Der liegt bei 550 Euro. Das klingt erst einmal nach viel Geld, aber damit sind alle Kosten wie Teilnahme, Vollverpflegung, Anreise und Übernachtung auswärts und so weiter abgedeckt. Ratenzahlung ist übrigens möglich.

Gibt es eine Erfolgsprognose ähnlicher Projekte?

Dieter Niermann: So wie "Segel setzen" gestrickt ist, gibt es wenig Vergleichbares. Wir haben früh den Kontakt zum Projekt mit den Kollegen in Hermannsburg gesucht – alleine schon deshalb, weil sie nicht den Eindruck bekommen sollen, wir klauen ihnen etwas. Die Idee ist eher, wir lehnen uns dort an und probieren das in etwas anderer Weise aus. In unserem eigenen Laden und bei anderen Weiterbildungseinrichtungen in Bremen gibt es solche Konstrukte auch nicht; die ähnlich zertifiziert sind, sind immer so, dass man sie verordnet bekommen kann. Von der Arbeitsagentur, vom Jobcenter zum Beispiel. "Segel setzen" beruht komplett auf Freiwilligkeit.

Was versprechen Sie sich selbst und die Teilnehmer davon?

Dieter Niermann: Sichtweise auf so ein wichtiges Thema wie Beruflichkeit beziehungsweise Erfolg im Beruf mit unseren Idealen und Vorstellungen als Christen schärfen können – weg von "Was bringt mir viel ein" und "Wo ist es leicht hinzukommen" hin zum Schärfen der Frage, was es im eigenen Leben ausmacht. Das geht bis zu der Erkenntnis, dass ein Mensch, den Beruf, den er mit 20 Jahren ergreift, mit 60 Jahren nicht mehr haben wird. Also sollte sich derjenige vom Stress freimachen können. Aber jeder muss an bestimmten Stellen Entscheidungen für sich treffen. Dafür gibt es bestimmte Instrumente an die Hand.

Unsere Hoffnung ist es, in diesen aufgeheizten Diskurs eine andere Stimme hineinbringen – eine vom Evangelium motivierte, die sagt: "Selbst dann, wenn Du nichts weißt, bist Du nicht abgeschrieben und bist etwas wert. Du hast ein Standing in dieser Gesellschaft und darfst es Dir nehmen."
Für die jungen Leute ist das Leistungsversprechen eine enge Betreuung. Das lässt sich dadurch bewerkstelligen, dass die Gruppe nicht so riesig ist. Außerdem helfen sich die Teilnehmer gegenseitig. Wir haben eine zweiköpfige Studienleitung: Kirsten Mittmann ist 26 Jahre alt und bewegt sich im Alter der Teilnehmer. Ich selbst übernehme mit 52 Jahren den Teil, der etwas mehr Lebenserfahrung mitbringt.

Wir können nicht versprechen, dass bei den Leuten der Groschen fällt, aber wir können so etwas wie eine Anlehnungskultur versprechen: Was der Eine schon einmal ausprobiert hat, könnte beim Anderen genau das richtige sein. Das gemeinsame Suchen nach Optionen könnte dazu führen, dass es Gedanken in einem hoch spült, die sie oder er sonst nicht hat.

Auch die Rückmeldungen aus der Gruppe sind uns sehr wichtig. Das ist bei uns natürlich ganz anders als in der Schule mit ihrem festgelegten Rahmen. In handlungsorientierten Settings hat jeder die Möglichkeit zu erfahren, was neben der reinen Vermittlung von Wissen noch in einem drinsteckt.