Heike Theisling hat ein Ziel: "Ich will dazu beitragen, dass es meinem Dorf gutgeht", sagt die quirlige Fotografin. Ihr Dorf, das ist Twist im Nordwesten von Niedersachsen, direkt an der niederländischen Grenze. Ein typisch emsländisches Örtchen: Backsteinhäuser umgeben von weiten Feldern, rund 10.000 Einwohner verteilen sich auf sieben Ortsteile. Ohne Auto wird es schwierig.
Vor vier Jahren hat Theisling den Verein "Seitenblicke" gegründet. Ehrenamtliche packen an, wenn Hilfe gebraucht wird, fahren etwa Senioren zum Supermarkt oder Arzt. Theisling arbeitet eng zusammen mit Kommunalpolitikern, Kirchengemeinden, der Werbegemeinschaft oder der Caritas. Mit dieser Art von gemeinsamem Engagement schaffen emsländische Gemeinden wie Twist etwas, was vielen ländlichen Regionen in Deutschland nicht gelingt: Sie stemmen sich erfolgreich gegen den Trend des Dorfsterbens.
Dorf ist nicht gleich Dorf
Manuel Slupina forscht am Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung. Wanderungsbewegungen vom ländlichen Raum in die Stadt seien nichts Neues, sagt der Wissenschaftler. Aber früher sei die Zahl der Kinder in Familien so groß gewesen, dass das Dorf den Verlust gut verkraftet habe. Heute sind die Familien auf dem Land ähnlich klein wie in den Städten. In den ländlichen Regionen leben immer weniger und immer ältere Leute. Besonders trifft es ländliche Regionen in Sachsen-Anhalt und Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern, die Ränder von Brandenburg, den Norden von Bayern, die Südwestpfalz und Nordhessen, zählt er auf.
Doch Dorf ist nicht gleich Dorf: "Es gibt einzelne Dörfer und Regionen, die von außen alles mitbringen, was eine typische Problemregion auszeichnet, wo es dann aber doch nicht so ist", sagt Slupina. Das Emsland sei ein Musterbeispiel dafür: "Es ist entlegen, dünn besiedelt und trotzdem schafft es die Region, attraktiv zu sein und demografisch wie wirtschaftlich zu wachsen." Die Arbeitslosenquote liegt im Emsland bei drei Prozent. Viele junge Leute, die die Gegend zum Studium verlassen, ziehen später zurück. Das Berlin-Institut veröffentlichte 2017 eine Studie über das engagierte Emsland: "Von Kirchtürmen und Netzwerken", heißt sie.
Netzwerken ist ein gutes Stichwort, wenn es um Twist geht. Oder um Heike Theisling. Zu der Aktion "Mittag miteinander" lädt die katholische Kirchengemeinde einmal im Monat alleinstehende Menschen zum Essen ein. Auch der Verein "Seitenblicke" ist daran beteiligt: Mit dem "Twist Mobil" werden Menschen wie die 82-jährige Frau Ackermann zum Gemeindehaus gefahren. Sie wohne erst seit zwei Jahren in Twist und gehe kaum raus, erzählt Ackermann. An der großen Tafel, wo rund 20 ältere Männer und Frauen Grillfleisch essen und plaudern, sitzt sie zum ersten Mal. "Bis zum nächsten Mal", ruft sie zum Abschied fröhlich.
Fast unnötig zu erwähnen, wie der ehrenamtliche Fahrer des "Twist Mobils", Alfred Beumer, zu seinem Job kam. Er engagiert sich schon lange bei der Hilfsorganisation "Tafel", die Lebensmittel an Bedürftige verteilt, erzählt der gelernte Kaufmann. Dort lernte er Theisling kennen, die ihm die Tätigkeit für "Seitenblicke" ans Herz legte. Menschen, die Hilfe brauchen, zu vernetzen mit Menschen, die helfen wollen - Theisling nennt es "meine Leidenschaft". "Seitenblicke" vermittelt auch Nachbarschaftshilfen wie Gartenarbeiten oder Babysitting. Dafür kann der Verein auf einen großen Pool an Ehrenamtlichen zurückgreifen.
Engagement hat im Emsland Tradition, sagt der evangelische Theologe Ulrich Hirndorf. Er ist, wie auch Theisling, Botschafter für den Caritas-Spendenfonds "Arche", mit dem Menschen in Not finanziell unterstützt werden. Das Emsland war früher eine arme Region und durch die vielen Moorflächen eher lebensfeindlich, sagt Hirndorf.
Leben und überleben konnten die Siedler nur durch Netzwerke. "Füreinander da zu sein hat die Menschen hier bis heute geprägt." Auch die Bindung zur Kirche sei im Emsland groß. Egal ob Schützenverein oder Feuerwehr - im Vorstand sitze immer jemand, der auch in der Kirche stark verankert sei. "Man trifft sich immer wieder."
Auch wenn es kein Patentrezept gibt - ein paar Hinweise hat die Forschung schon, warum manche ländliche Regionen Erfolg haben, sagt Slupina. Dörfer mit einer hohen Vereinsdichte etwa hätten häufig stabilere Einwohnerzahlen. Hilfreich sei auch, wenn engagierte Bürger und Politiker zusammenarbeiteten. Und ganz wichtig sei schnelles Internet: "Für die Zukunft der Dörfer muss schnelles Internet so selbstverständlich werden wie Wasser- oder Stromversorgung."
Auch in Twist ist es nicht mehr so leicht wie früher, Ehrenamtliche zu gewinnen, berichten Theisling und ihre Mitstreiter von "Seitenblicke". Aber die Gemeinde reagiert auf Veränderungen: Seit 2016 gibt es in Twist die "Anpacker-App". Diese wurde von der Caritas Osnabrück entwickelt, seit einem Jahr bietet der Landkreis Emsland sie für die gesamte Region an.
Die App zeigt an, wo gerade welche Art von Hilfe gebraucht wird und vermittelt den zugehörigen Ansprechpartner, erläutert Klaus Ludden vom Landkreis. So würden insbesondere Menschen erreicht, die sich nicht langfristig festlegen, sondern projektbezogen engagieren wollten. Als Konkurrenz zu "Seitenblicke" sieht Theisling die App nicht. Eher als Hilfsmittel und Ergänzung zu ihrem altbewährten Rezept: Leute ansprechen und motivieren.