Interessiert drängen sich mehr als 20 Menschen um einen hübsch dekorierten Gabentisch, auf dem auf Servietten feinsäuberlich verschiedenes Gemüse drapiert ist. Vieles davon kennen sie aus dem heimischen Garten, anderes sehen sie zum ersten Mal. Vor allem die verschiedenen Bananensorten werden kritisch beäugt – sie sind fast komplett schwarz, also eigentlich eher ein Fall für den Kompost statt den Kochtopf. "Das sind keine Dessert-, sondern Kochbananen und die müssen wirklich so aussehen. Wir nennen sie Plantain und sie sind sozusagen unser Kartoffelersatz", klärt Hariet aus Uganda auf. Sie ist heute "Küchenchefin" bei der zweiten "Kulinarischen Weltreise" der Lydia-Gemeinde in der Dortmunder Nordstadt. Nach Kamerun macht die "Kulinarische Weltreise" nun in Hariets Heimatland Uganda Station. Von Maniok über Okra bis zu Entuula (kleines Gemüse aus der Familie der Auberginen) arbeitetet Hariet sich durch, erklärt, zeigt und beantwortet die interessierten Fragen der Teilnehmer. Auf der Speisekarte steht heute unter anderem Matooke (gestampfter Kochbananenbrei) mit der dazugehörigen Erdnuss-Sauce Binyebwa, ein ugandisches Nationalgericht.
Diese internationalen Kochabende in der Lydia-Gemeinde sind keine ganz gewöhnlichen Gemeindeveranstaltungen – sie sind Teil des größeren Pilotprojekts "Gemeinsam Kirche sein – Internationale Gemeinde", das die Gemeinde seit 2016 mit Unterstützung der Evangelischen Kirche von Westfalen, dem Kirchenkreis Dortmund und dem Amt für Mission, Ökumene und kirchliche Weltverantwortung voranbringt. Ziel ist, dass bis zum Jahr 2020 Christen anderer Sprache und Herkunft in der Lydia-Gemeinde ihre Heimat gefunden haben. Denn die Zukunft der Gemeinde und eigentlich aller evangelischen Kirchengemeinden, so die Auffassung der Beteiligten, sei angesichts der sozialen und demografischen Gegebenheiten nicht ohne Migrationsgemeinden zu denken. "Es ist nun mal so, dass wir uns als Gesellschaft verändern. Und darauf müssen wir uns einstellen", erklärt Carola Theilig, eine der beiden projektverantwortlichen Pfarrerinnen der Lydia-Gemeinde. "Unsere Reaktion darauf ist, dass wir sagen: zu uns als christliche Gemeinde gehören alle Menschen – nicht nur die Einheimischen, sondern eben auch die, die von weiter her zu uns kommen." Die christliche Gemeinschaft in der Dortmunder Nordstadt, in der viele Muslime leben, ist klein, aber vielfältig: Christinnen und Christen aus 62 Nationen gehören zur Lydia-Gemeinde.
Dass aus "Wir" und "die Anderen" tatsächlich ein gemeinsames "Wir" wird, ist ein langer, schwieriger Prozess. "Wir wollten jetzt nicht neben der übrigen Gemeindearbeit noch so ein Projekt laufen haben, in dem wir uns um Menschen mit Migrationshintergrund kümmern", betont Theilig, "sondern wir wollen uns als gesamte Gemeinde verändern." Das sei jedoch nicht nur auf Begeisterung bei den Alteingesessenen gestoßen. Vor allem die Frage, welche Gemeindeaktivitäten durch dieses neue Projekt nicht mehr stattfinden könnten, habe die Menschen umgetrieben. Schließlich wurden für das Projekt praktisch zwei volle Pfarrstellen um die Hälfte gekürzt, um eine neue Projektstelle ins Leben zu rufen. "Meine Kollegin und ich mussten uns schon überlegen, was wir jetzt noch machen können und was wir lassen müssen", gibt Carola Theilig freimütig zu. Einige Arbeiten habe man gestrafft, andere – wie zum Beispiel den Vorsitz im Presbyterium oder die zweiwöchigen Besuche bei der Frauenhilfe – habe sie aufgeben müssen.
Die bisherigen Entscheidungen wurden jedoch nicht einfach von oben herab getroffen, sondern in Absprache mit der Gemeinde. Und nicht immer blieb es bei den ursprünglichen Projektplänen. So sollte ein Besuchsteam beispielsweise alle 600 bis 800 neu zugezogenen Gemeindeglieder anderer Herkunft besuchen – während die klassischen Geburtstags- oder Krankenbesuche aus Zeitgründen nicht mehr stattfinden würden. Das sahen viele Gemeindeglieder als Benachteiligung der Alteingesessenen an. Stattdessen werden jetzt alle paar Monate alle Gemeindeglieder, die im Umkreis eines speziellen Ortes wohnen, persönlich zu einem kleinen Treffen eingeladen. Zehn bis 20 Prozent der Eingeladenen kommen am Ende auch tatsächlich vorbei, oft gesellen sich jedoch auch andere Menschen einfach dazu. "Wir machen das absichtlich nicht in unseren Kirchen und Gemeindehäusern, sondern auf öffentlichen Plätzen oder Straßen, weil die Aktion niederschwellig und unkirchlich sein soll. Viele trauen sich erstmal nicht in die Kirche und da ist das ein guter Weg, um mit uns in Kontakt zu kommen", sagt Theilig. Dank solcher Kompromisse und vieler Gespräche sei man "letztlich zu dem Ergebnis gekommen, dass die Chancen eigentlich weit größer sind und dass Veränderung auch nicht unbedingt ein Verlust sein muss, sondern dass einfach etwas Neues anfängt".
Neuanfänge gehen jedoch selten ohne Irritationen über die Bühne und so musste auch die Lydia-Gemeinde erstmal lernen, sich auf manche christliche Tradition aus anderen Ländern einzulassen. "Einmal wöchentlich trifft sich bei uns eine von einem afrikanischen Gemeindeglied in englischer Sprache geführte Gebetsgruppe, die eine traditionelle afrikanische Form des Gebetes mit Dämonenaustreibung praktiziert", erzählt Theilig. "Und wir waren völlig verunsichert, wie wir damit umgehen sollen, weil uns das alles so fremd vorkommt." Man habe sich dann externe Hilfe geholt und erfahren, dass der Dämonen- und Hexenglaube unter afrikanischen Christen durchaus recht verbreitet sei und in Pfingstkirchen praktiziert werde. Schließlich habe auch Jesus Dämonen ausgetrieben. "Wir sind dann zur Überzeugung gekommen, dass wir das natürlich selbst nicht machen können, weil wir so nicht sind, dass wir jetzt aber auch nicht unbedingt gleich so in Panik geraten müssen, wenn das jemand macht", so Carola Theiligs Fazit. Solange keine Menschenrechte verletzt oder Wunderheilungen versprochen würden, solange es sich nur um engagiertes Beten handele, wolle man ruhig bleiben und das hinnehmen. Schließlich schließe man sonst viele vor allem westafrikanische Christen von der Gemeinschaft aus, weil man ihren Glauben und ihre christliche Tradition nicht respektiere.
Positiv waren die internationalen Gottesdienste, die vier Mal im Jahr in der Gemeinde gefeiert werden, und ab 2019 sogar einmal monatlich stattfinden sollen. An der Organisation der internationalen Gottesdienste beteiligen sich neben den Mitgliedern der Lydia-Gemeinde unter anderem auch Mitglieder einer reformierten Gemeinde aus Südkorea, einer pfingstkirchliche, tamilische Gemeinde, eine studentische Worship-Band aus Kamerun und ein Pfarrer aus Ruanda. "Wir hatten in der Vorbereitung schon die tollsten Diskussionen, weil da einfach so viele verschiedene religiöse Traditionen, Gottesdienststile und Frömmigkeiten aufeinandertreffen", berichtet Carola Theilig. Vom Für und Wider des Glaubensbekenntnisses, über die optimale Länge des Gottesdienst und die Art zu beten bis hin zur Musik und Besucherbeteiligung habe man über viele oft auch theologisch interessante Themen gesprochen. "Die internationalen Gottesdienste sind definitiv ein Erfolg. Sonst sitzen sonntags vielleicht 20 bis 40 Menschen in den Kirchenbänken, bei den internationalen Gottesdiensten ist die Kirche deutlich voller", so Theilig.
Begeisterte Unterstützer des gesamten Projekts sind auch beim Internationalen Kochabend dabei. "Die internationalen Gottesdienste sind richtig schön und machen unheimlich viel Spaß. Ich habe mir diese Gemeinde gezielt ausgesucht, weil sie weltoffen, jung und international ist", erzählt die 27-jährige Hannah, die mit ihrem wenige Monate alten Sohn und drei Freundinnen zum Kochabend gekommen ist. "Ich habe auf Reisen viele verschiedene Arten erlebt, Glauben zu leben und brauchte dann für mich eine Erdung, um die Frage zu beantworten: Was glaube ich eigentlich?", erzählt Hannah und wiegt ihren Sohn leicht hin- und her. "Und hier gibt’s halt ein Gemeindeleben, das zu mir passt und wo der Glaube nicht an der Kirchenpforte aufhört."
Ein Angebot für junge Menschen wie Hannah zu gestalten, sieht Pastorin Carola Theilig als große Herausforderung an. "Unser kirchliches Angebot und das, was die vielen jungen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund in unserem Stadtteil interessiert, passen leider meistens nicht zusammen", sagt Theilig. Ohne eine Vollzeitstelle in der Jugendarbeit könne man mit Hilfe der Ehrenamtlichen aber "nur" die Arbeit in der Kinderkirche, den Konfirmandenunterricht und eine daraus entstandene Jugendgruppe stemmen. Und in diesem Bereich sei man sowieso schon wegen der unterschiedlichen Herkunft der Kinder in der Nordstadt international unterwegs.
Was bei den jungen Leuten gut funktioniert, gestaltet sich bei den Älteren schwieriger: "Bei der Frauenhilfe, dem Männerkreis oder der Seniorenhilfe zum Beispiel merken wir, dass das schon sehr eingespielte und festgefügte Gruppen sind und es Neuen – egal ob mit oder ohne Migrationshintergrund – da sehr schwer fällt, Fuß zu fassen", so Theilig. Diese Alteingesessenen bringe man leichter bei Vorträgen oder eben Kochabenden mit Christen anderer Herkunft zusammen.
Und das merkt man auch: zwei Drittel der Teilnehmer am Kochabend sind etwas ältere Frauen. Die Jüngeren (zwei Jungen, ansonsten Mädchen und Frauen) sind entweder in der Gemeinde aktiv oder – bei den Nicht-Gemeindegliedern – aus dem Ausland. So zum Beispiel Joan aus Uganda und Gentille aus dem Kongo. Da sie mit der Zubereitung des afrikanischen Essens vertraut sind, helfen sie den anderen und zeigen zusammen mit Hariet, wie man die Kochbananen schält oder Maniok weiterverarbeitet. "Eigentlich gehe ich in eine andere Gemeinde", erzählt Gentille, "aber ich fand das Konzept dieser kulinarischen Weltreise sehr interessant." Immer, wenn eine der Teilnehmerinnen vom Gemüse naschen will, kommt von Joan oder Gentille ein entschiedenes: "Das schmeckt nicht" oder "wenn du das roh ist, bekommst du Bauchschmerzen". Sie passen auf, dass alles läuft und erzählen dabei in einem Mix aus deutsch und englisch von den Besonderheiten des Gemüses und wie es in ihrem jeweiligen Heimatland zubereitet und gegessen wird. Manchmal ist die Verständigung etwas holprig, wenn ein Wort in der anderen Sprache fehlt, aber irgendwer wirft immer schnell eine Übersetzung ein.
Dass einige wenige die eigenen Vorgehensweisen als Non-Plus-Ultra ansehen, zeigt sich im Laufe des Abends jedoch auch. Als Joan die gedünsteten Bananen in eine Plastiktüte füllt, werden die umstehenden älteren Frauen stutzig. Bereitwillig erklärt Joan, dass die Kochbananen normalerweise in Bananenblättern zu Brei geknetet werden. Da das jedoch nicht ginge, müsste man sich eben anders helfen. "Das nächste Mal bringe ich die Kartoffelreibe mit und dann zeig ich denen mal, wie das richtig gemacht wird", ist einer der Kommentare. Als eine andere Teilnehmerin daraufhin einwendet, das man doch eben gerade da sei, um zu erfahren, wie es in Uganda gemacht wird, kommt nur schnippisch zurück, dass sie es garantiert nicht so primitiv machen werde.
Beim gemeinsamen Essen gibt es dann viel Lob für das ugandische Essen und den gelungenen Abend. Jasmin Wille, die schon zum zweiten Mal an der Kulinarischen Weltreise teilgenommen hat, schwärmt: "Ich war am Anfang beim ersten Internationalen Kochabend erst echt skeptisch, weil ich diese Bananen beim Chinesen nicht mag, aber diese hier sind echt wahnsinnig lecker." Das war bestimmt nicht die letzte Kulinarische Weltreise der Lydia-Gemeinde.