Am 1. Juli tritt in Australien aller Voraussicht nach das Gesetz über die Entschädigung von Missbrauchsopfern in Kraft. Der Entschädigungsfonds ist eine der Empfehlungen der staatlichen Missbrauchskommission, die den Umgang von religiösen und weltlichen Institutionen mit sexuellem Missbrauch von Kindern untersucht hatte.
Das wird für Anglikaner, andere Kirchen und weltliche Institutionen richtig teuer. Schätzungen zu Folge werden für die insgesamt rund 60.000 Missbrauchsopfer umgerechnet 2,5 Milliarden Euro benötigt. Die Zahlungen sollen von jenen Institutionen geleistet werden, von deren Mitarbeitern die Betroffenen missbraucht wurden. Erst wenn eine Institution nicht mehr existiert oder bankrott ist, soll die öffentliche Hand als Geldgeber einspringen.
Neben den religiösen und weltlichen Institutionen werden auch die australische Bundesregierung sowie die Bundesstaaten Partner in dem Fonds sein. Der größte Einzelzahler aber ist mit umgerechnet rund 645 Millionen Euro die Katholische Kirche als die am stärksten von dem Missbrauchsskandal betroffene Institution.
Die Anglikaner als die am zweitstärksten betroffene Konfession müssen auch tief in die Tasche greifen, auch wenn noch keine Schätzungen über die Gesamthöhe der Zahlungen im Raum stehen. Die Diözese Tasmanien hat aber schon errechnet, dass sie umgerechnet rund fünf Millionen Euro aufbringen muss. Geld, das sie nicht hat. Deshalb hat der Rat der Diözese im Mai in Hobart beschlossen, die Entschädigungszahlung aus dem Vermögen der Diözese und der Gemeinden sowie aus dem Verkauf von Immobilien aufzubringen. Genau gesagt müssen Diözese und Gemeinden 25 Prozent ihrer Vermögen hergeben. Aus dem Erlös aus dem Immobilienverkauf sollen 25 Prozent zur Finanzierung beitragen. Insgesamt will die Diözese 108 Immobilien auf den Markt bringen. Auf einer vorläufigen Verkaufsliste sind bereits 78 Immobilien konkret gelistet, darunter Friedhöfe und 55 Kirchen.
Richard Condie, Anglikanischer Bischof von Tasmanien, weiß, dass diese Verkäufe sehr weh tun. Aber Condie verweist auf "Jesus von Nazareth, der die Sünden der Welt auf sich genommen hat. Sünden, die er nicht begangen hat." Weiter betont der Bischof: "Dieses kostspielige Opfer zu bringen ist zutiefst christlich."
Australien muss sich den moralischen, spirituellen, juristischen und religiösen Auswirkungen des gigantischen Missbrauchsskandals stellen. Keine Kirche, keine Religion, keine weltliche Institution - vom Militär über den Sport bis zur Unterhaltungsbranche - war in den letzten Jahrzehnten frei von Missbrauch. Das hat in gut fünfjähriger Arbeit die staatliche Kommission zur Untersuchung des Umgangs mit Missbrauchsfällen durch Institutionen an den Tag gebracht.
Die 2013 von der australischen Regierung eingesetzte Kommission hat insgesamt 57 öffentliche Anhörungen abgehalten und hinter verschlossenen Türen die Aussagen von 8.013 Missbrauchsopfern gehört. Zudem erhielt sie 1.344 schriftliche Aussagen. Von diesen 9.357 Aussagen wurden 3.955 in anonymisierter Form in den im Dezember 2017 veröffentlichten, 17 Kapitel und 100.000 Seiten umfassenden Abschlussbericht aufgenommen und daraus abgeleitet 409 Empfehlungen zur Vermeidung von Missbrauch in der Zukunft abgeleitet.
Die Öffentlichkeit habe durch die Arbeit der Kommission von dem "mannigfaltigen und andauernden Versagen" bei dem Schutz von Kindern, von der Kultur des Geheimhaltens und Vertuschens erfahren, sagte Philip Reed, CEO der Missbrauchskommission. "Jetzt liegt es bei den Regierungen und den Institutionen, im nächsten Schritt die Empfehlungen umzusetzen."
Missbrauchsfälle vertuscht, Täter geschützt
Ein paar Zahlen machen das Ausmaß des Missbrauchs in Institutionen der Anglikanischen Kirche wie Schulen deutlich. 1.115 Menschen hatten vor der Kommission angegeben, als Kinder und Jugendliche zwischen Januar 1980 und Dezember 2015 in den 22 anglikanischen Diözesen sexuell missbraucht worden zu sein. Die Missbrauchskommission konnte 569 Täter identifizieren, von denen 247 ordinierte Kleriker, 285 Laien und 32 mit unbekanntem religiösen Status waren. 95 Prozent der Täter waren Männer. Bei den Opfern waren 75 Prozent Jungen und 25 Prozent Mädchen. Die traurigen Missbrauchsspitzenplätze belegen die Diözesen Brisbane und Adelaide.
Die Anglikaner hatten, wie auch andere christliche Konfessionen, schon vor Beginn der Untersuchung der Missbrauchskommission mit der Aufarbeitung der Missbrauchsfälle, der Schaffung von Präventionsmaßnahmen und der Entschädigung von Betroffenen begonnen. Diese Maßnahmen wurden von der Missbrauchskommission durchaus gelobt, aber auch als nicht ausreichend bewertet.
Von den insgesamt 409 Empfehlungen der Kommission zum Schutz von Kindern und Umgang mit Missbrauchsfällen betreffen fünf konkret die Anglikanische Kirche. So soll die Kirche einen "nationalen Standard" bei Auswahl, der Überprüfung und der Ausbildung von Priesterkandidaten einführen. Weiter empfiehlt die Kommission die Schaffung eines "einheitlichen episkopalen Rahmenwerks", um "Bischöfe und ehemalige Bischöfe" vor einem "geeigneten Gremium" bei Vorwürfen von sexuellem Missbrauch zur Verantwortung ziehen zu können.
Erzbischof Philip Freier, Primas der Anglikanischen Kirche, hatte nach der Vorlage des Abschlussberichts der Kommission im Dezember 2017 betont, die Anglikaner hätten schon 2004 damit begonnen, die Kirche zu "einem sicheren Ort – speziell für Kinder – zu machen". Freier räumte aber auch ein, dass die Kirche manchmal auch "zu langsam war, den Missbrauch in seinem ganzen Ausmaß oder seiner ganzen Schwere zu begreifen". "Ohne die Arbeit der Kommission wären wir dazu nicht fähig gewesen", betonte der Erzbischof von Melbourne.
Die Anglikaner haben mit umfassenden Reformen begonnen. Im September 2017 beschloss die alle drei Jahre tagende Generalsynode zum ersten Mal in der Geschichte der australischen Anglikaner national verbindliche Standards zum Schutz von Kindern. Weiter wurde ein Verfahren beschlossen, dass der Kirche den Beitritt zu dem nationalen Entschädigungsfonds ermöglicht. Erzbischof Freier weiß aber auch genau: "Die Arbeit, um die Kirche zu einem sicheren Ort zu machen, hört niemals auf...."
Maßnahmen zum Schutz von Kindern, zur Prävention von Missbrauch, zur finanziellen Entschädigung der Opfer sind eine Sache. Die andere, noch schwerere Aufgabe der Kirchen aller Konfessionen "Down Under" besteht darin, das verlorene Vertrauen der Menschen wiederzugewinnen. Der katholische Theologe Neil Ormerod von der Katholischen Universität Australiens befürchtet, dass die Kirchen durch den Missbrauchsskandal nicht nur ihre "moralische Autorität zu Sexualfragen, sondern auch zu anderen Themen verloren haben".
Die Kirchen haben sich in den vergangen Jahren mehrfach gegenüber dem Opfern und ihren Familien für den Missbrauch und das angetane Leid und Unrecht entschuldigt. Australiens Premierminister Malcolm Turnbull hat jetzt als Reaktion auf den Kommissionsbericht eine offizielle Entschuldigung der Regierung für den 22. Oktober dieses Jahres angekündigt. Zugleich versicherte der Regierungschef, die mehr als 100 von der Kommission an Parlament und Regierung gerichteten Empfehlungen umsetzen zu wollen. "Jetzt, da wir die schockierende Wahrheit aufgedeckt haben, müssen wir alles in unserer Macht stehende tun, um den Mut der vielen Tausend Menschen zu würdigen, die als Zeugen ausgesagt haben", betonte Turnbull.