Am 17. Mai beginnt der Ramadan. Die Tage vor dem muslimischen Fastenmonat gelten seit langem unter Sicherheitsexperten als gefährliche Zeit. Islamistische Terroristen nutzen immer wieder die Zeit vor dem Ramadan für – aus ihrer Sicht – gottgefällige Anschläge auf Ungläubige zur Verteidigung des Islam.
In der indonesischen Metropole Surabaya ließen wenige Tage vor dem Ramadan islamistische Terroristen auf besonders brutale und blutige Weise die Befürchtungen der Sicherheitsexperten Wirklichkeit werden. Bei Selbstmordanschlägen auf drei Kirchen - eine protestantische, eine katholische und eine pfingstkirchliche – starben 13 Menschen und mehr als 40 wurden verwundet. Die besondere Infamie bei den Selbstmordanschlägen: sie wurden von einer sechsköpfigen Familie begangen. Die Mutter zündete zusammen mit ihren beiden neun und zwölf Jahre alten Töchtern Sprengstoffgürtel in der protestantischen Kirche.
Die Anschläge von Surabaya haben das mehrheitlich muslimische Indonesien erschüttert und bei der übergroßen Mehrheit der Menschen aller Religionen Entsetzen und Abscheu hervorgerufen. Die beiden großen muslimischen Massenorganisation Nahdlatul Ulama (NU) und Muhammadiyah mit jeweils mehr als 30 Millionen Mitgliedern haben die Anschläge verurteilt und Terrorismus eine klare Absage erteilt.
Die Mehrheit der muslimischen Indonesier sind Anhänger eines moderaten, weltoffenen sunnitischen Islam, für den die NU den Begriff "Islam Nusantara" prägte - "Islam des indonesischen Archipels" - um sich von dem ultrakonservativen Islam aus Saudi-Arabien abzugrenzen. Unterstützt wird die NU von Präsident Joko Widodo, der Islam Nusantra als moderaten Islam im Einklang mit den Werten und Traditionen Indonesiens definiert.
Der Islam kam etwa im 10. Jahrhundert durch arabische und indische Kaufleute nach Sumatra, von wo aus er sich langsam in Indonesien ausbreitete. Ab etwa dem 16. Jahrhundert löste der Islam die beiden bis dahin dominierenden Religionen Buddhismus und Hinduismus als Mehrheitsreligion ab und vermischte sich mit regionalen Traditionen wie dem Spiritualismus und Geisterglauben auf Java.
Im 16. Jahrhundert zog sogar eine Frau als Admiralin der Kriegsmarine des Sultanats Aceh gegen die holländische Kolonialmacht in den Krieg und zwang den holländischen Admiral Jacob van Neck zur Kapitulation. Nicht von ungefähr setzte Präsident Joko Widodo 2017 zum jährlichen "Nationalen Heldentag" mit der Ernennung der Admiralin zur "Nationalheldin" ein Zeichen gegen den in Indonesien erstarkenden radikalen Islam.
Die wachsende Popularität eines Islam ultrakonservativer bis radikaler Prägung wurde sichtbar in der islamistische Kampagne gegen die Wiederwahl des christlichen Gouverneurs von Jakarta, Basuki Tjahaja "Ahok" Purnama. Mit zwei Demonstrationen gegen Ahok und gegen die Pancasila als ideologische Grundlage der säkularen Verfassung Indonesiens Ende 2016 mit mehreren Hunderttausend Teilnahmen etablierten sich die radikalen Muslime als politische Kraft. Ihr größter Erfolg bisher war die Wahlniederlage von Ahok im April 2017 und seine anschließende Verurteilung wegen angeblicher Blasphemie zu zwei Jahren Haft. Ziel der radikalen Muslime ist die Abschaffung der säkularen Verfassung Indonesiens und die Errichtung eines Kalifats, eines islamischen Gottesstaates.
Noch sind die muslimischen Indonesier mehrheitlich freundliche und tolerante Menschen. Aber der radikale Islam ist mit gewaltigen Schritten auf dem Vormarsch, allen voran die kürzlich verbotene salafistische Hizbut Tahrir Indonesia (HTI), die seit dem Jahr 2000 in Indonesien aktiv ist. Der indonesische Geheimdienst schätzt, das bereits 1.300 HTI-Mitglieder Führungspositionen in der Verwaltung, in Universitäten, im Militär und in der Polizei innehaben. Einer Umfrage zu Folge sind 20 Prozent der Studenten für die Errichtung eines Kalifats. "Das Gespenst der wachsenden Intoleranz und Selbstjustiz stellt eine Bedrohung des demokratischen Erfolgs Indonesiens dar. Wir dürfen nicht den Geist der Demokratie, der Menschenrechte und der Pancasila durch diese dunklen Kräfte unterminieren lassen", warnte am 8. Mai 2018, eine Woche vor den Anschlägen von Surabaya, die Gruppe "ASEAN-Parlamentarier für Menschenrechte" (APHR).
Dem IS die Treue geschworen
Indonesien hat eine unheilvolle Geschichte blutiger Terrorakte. Mehr als 200 Menschen starben 2002 bei einem Anschlag auf Discotheken in Bali. 23 Menschen kostete 2005 eine weitere Anschlagsserie auf der beliebten Urlaubsinsel Bali das Leben. Im Juli 2009 explodierten in Jakarta vor dem Hotels JW Marriott und Ritz-Carlton im Abstand von fünf Minuten zwei Bomben. Neun Menschen starben.
Die Selbstmordanschläge in Bali und Jakarta gingen auf das Konto der Terrororganisation Jemaah Islamiyah. Bei den Tätern der Anschläge auf Starbucks in Jakarta im Januar 2016 und jetzt in Surabaya handelt es sich um Männer und Frauen, die als Kämpfer der Terrorarmee Islamischer Staat (IS) nach dessen Niederlage aus Syrien in ihre indonesische Heimat zurückgekehrt sind und sich der Terrororganisation Jamaah Anshar Daulah (JAD) angeschlossen haben, die dem IS die Treue geschworen hat.
Terrorexperten warnen seit langem vor der Rückkehr südostasiatischer IS-Kämpfer in ihre Heimatländer. Die Zahl der indonesischen IS-Kämpfer in Syrien wurde auf 1.200 geschätzt, von denen die meisten entweder schon wieder zurück in Indonesien oder auf dem Weg sein sollen. Wieviele Indonesier in Indonesien Anhänger des IS sind, ist unbekannt. Die Zahl der Unterstützer der Terrororganisation Al Kaida in Indonesien wird von Terrorexperten auf 3.000 geschätzt.
Internationale Großveranstaltungen in Indonesien 2018
Indonesien führt seit dem ersten Anschlag von Bali einen entschlossenen und durchaus erfolgreichen Kampf gegen den Terrorismus. Aber nach Ansicht vieler Experten und Vertreter von Religionen wurde die Gefahr, die von den radikalislamischen Gruppen wie der HTI ausgeht, unterschätzt. Fast schon verzweifelt versucht die Regierung von Präsident Widodo seit der islamistischen Kampagne gegen Ahok die radikalen Gruppen durch Verbote und Antiterrormaßmahmen einzudämmen. Gomar Gultom, Generalsekretär des Dachverbands protestantischer Kirchen PGI, warnte auf Facebook nach den Anschlägen von Surabaya, das Programm der Antiterrorbehörde zur Deradikalisierung von Islamisten werde fehlschlagen, wenn Prediger weiterhin "Radikalismus und Gewalt" ungehindert verbreiten können.
Die Anschläge von Surabaya im Vorfeld einer Serie großer nationaler und internationaler Ereignisse in Indonesien lassen Schlimmes ahnen. Im Juni dieses Jahres finden in weiten Teilen des Landes Kommunalwahlen statt. Vom 18. August bis zum 2. September 2018 ist Indonesien Gastgeberland der internationalen Sportveranstaltung "Asean Games". Im Oktober tagen auf Bali Weltbank und Internationaler Währungsfonds (IWF). Im Frühjahr 2019 stehen dann Präsidentschafts- und Parlamentswahlen an.
Die Islamisten haben schon angekündigt, in den anstehenden Wahlkämpfen die gleiche Strategie anwenden zu wollen, mit der sie den Christen Ahok zu Fall gebracht haben. Eigentlich einigermaßen säkulare Parteien, auch das hat der Fall Ahok gezeigt, scheuen um ihres Wahlerfolgs willen nicht vor Bündnissen mit den radikalen Muslimen zurück.
"Intoleranz kann die Saat für Spaltung legen. Das kann zu Radikalisierung führen"
Im indonesischen Alltag sorgen immer wieder gewaltsame Übergriffe auf Priester und Kirchen als auf Angehöriger islamischer Minderheiten wie Schiiten und Ahmadis für Angst und Schrecken. "Intoleranz kann die Saat für Spaltung legen. Das kann zu Radikalisierung führen", warnte im Februar dieses Jahres Taufik Andrie, Direktor des "Institute for International Peace Building (IIPB) in Jakarta im Gespräch mit dem Nachrichtenportal "Jakarta Globe".
In Surabaya hat Bürgermeisterin Tri Rismaharini verschärfte Sicherheitsmaßnahmen für Kirchen als auch katholische und protestantische Schulen angeordnet. Die Sicherheitsmaßnahmen würden zudem in enger Abstimmung mit den Geheimdiensten den aktuellen Erfordernissen angepasst, versicherte Rismaharini. Die Christen der zweitgrößten Stadt Indonesiens sind trotzdem verängstigt und verunsichert und suchen Trost und Hoffnung in den Gottesdiensten, die seit den Anschlägen besser denn je besucht sind.