Zu Beginn ist von der Sintflut die Rede – dem biblischen Ereignis, bei dem Noah samt Familie und Kern-Zoo als einziger die Nase über Wasser behielt. Ein Bild, das sich gut übertragen ließe auf die Daten-Sintflut heute, in der nicht nur viele Nutzerinnen und Nutzer, sondern auch die Journalistinnen und Journalisten oft zu ertrinken drohten, sagte Hanno Terbuyken, Leiter Digitale Kommmunikation im Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik (in Vertretung für Markus Bräuer, den Medienbeauftragten der EKD) in der Begrüßung. Eine Angst, die Tilo Barz, Multimedia-Chef des Hessischen Rundfunks mit einem Bonmot des Kultautors Douglas Adams umschrieb, der einst behauptete: "Alles, was nach unserem 35. Geburtstag erfunden wurde, verstößt gegen die natürliche Ordnung der Welt und wird abgelehnt." Innovation könne schon Angst machen, so Barz, wenn man als etablierter Journalist das Gefühl bekäme, dass das überlieferte Wissen und die trainierten Fertigkeiten plötzlich nichts mehr Wert seien. Das ist dann die vielzitierte "Disruption", mit der sich dieser Frankfurter Tag des Online-Journalsimus beschäftigte.
Karin Schlüter, Leiterin des Masterstudiengangs Leadership in digitaler Kommunikation an der Universität der Künste Berlin, erlebte eine solche Disruption buchstäblich, als auf einer Urlaubsfahrt ihr Auto explodierte. Danach kaufte sie – als Großstadtbewohnerin – kein neues mehr. Und hörte damit abrupt auf, Radio zu hören. Stattdessen intensivierte ihren Spotify-Konsum. Für sie ein plastisches Beispiel, wie technische Veränderungen das Ändern von Gewohnheiten bedingen. Natürlich findet das bei den meisten Menschen nicht durch eine Autopanne statt, sondern durch ein stetes Bröckeln des Fundaments. Bis hin zu dem Punkt des Abbruchs, wenn zum Beispiel die Vorteile der Tageszeitung auf dem Tablet überwiegen. Dann gibt man das Papierknistern auf. Ein Vorgang, den Joseph Schumpeter schon 1942 als "schöpferische Zerstörung" beschrieb.
Für Unternehmen – und auch Medienschaffende - stellt sich das als oft unmerklicher Prozess dar, der dann irgendwann durch eine unvorhergesehene Entwicklung richtig ins Rollen kommt. Diese unvorhergesehene "Disruption" beschrieb Clayton M. Christensen so: "Unternehmen scheitern, weil sie alles richtig machen." So wie Nokia zum Beispiel, deren CEO irgendwann konstatieren musste, dass man sich keines Fehlers bewusst sei – und trotzdem verloren habe. Neue Produkte und exponentionelle Entwicklungen (in diesem Fall das Smartphone) kommen eben schnell und unvorhergesehen.
Radio hören geht auch ohne Radiogerät
Gerade bei der Mediennutzung bedeutet dies vor allem ein Ende von alten Routinen. Die Reize zur Mediennutzung seien zwar noch da, so Schlüter, würden aber mit neuen Routinen beantwortet. Diese seien vor allem durch Hyperpersonalisierung (via Social Media bekomme ich die Nachrichten die ich für mich brauche), Konnektivität, soziale Infrastruktur und das Bedürfnis nach eigenen Produkten getrieben. Zudem seien sie datengetrieben und immer weiniger an spezielle Geräte gebunden: Es braucht ja schon lange keine Extra-Radioempfänger mehr, um Radio zu hören.
Wie also damit umgehen? Darauf gab es auf dem FTOJ verschiedene Antworten. Karin Schlüter zum Beispiel warb dafür, eigene Gewohnheiten als Medienmenschen zu überprüfen und in Frage zu stellen, über den Tellerrand zu schauen, was andere machen, Neues aufzubauen und auszuprobieren, kurz: Eine Kultur der Veränderung zu etablieren, in der so wenig wie möglich zementiert ist und in der Reiz und Gewohnheit entkoppelt sind. Das passiere übrigens meistens dort am ehesten, so ihre interessante Fußnote, wo ein hohes Maß an Sicherheit gegeben sei – dann erst steige die Lust auf Experimente. Schließlich sei eines ganz klar: "Man ändert sich nicht durch Angst, sondern durch Liebe, Lust auf Neues, positive Emotionen."
Vorsicht bei der Operation
Klaus Motoki Tonn ist Kommunikationsberater und Leiter der Kommunikation in der evangelischen Landeskirche Hannovers. Für ihn beginnt kreative Veränderung und Innovation dort, wo die Bilder, die Unternehmen, Institutionen und Medien von sich selbst haben, in Frage gestellt werden. Das größte Pfund dabei sei die (Unternehmens-)Kultur in der jeweiligen Einrichtung, auch und gerade bei der Kirche, so Motoki Tonns These, der dazu Peter Drucker zitierte: "Culture eats strategy for breakfast." Die Kirche könne zum Beipiel ihre ethische Kompetenz in die Waagschale werfen im Dialog mit technischen Innovatoren, um diese beiden Welten miteineinader zu verkoppeln. Auch er plädierte für ein Verändern von Gewohnheiten, mit drei E-Hashtags: #Experience, #Environment und #Endurance. Also das Sammeln von neuen Erfahrungen (der Blick auf das, was auf der anderen Straßenseite passiert), das Miteinbeziehen der Umgebung und vor allem: Ausdauer. Dabei sei es ganz wichtig, bestehende Abgrenzungen und Einteilungen nicht auf einen Schlag einzureißen, schließlich hätten diese auch eine Schutzfunktion und gäben Sicherheit. "Vorsicht bei der Operation!" – so sein Motto.
Die Praxisbeispiele von Laura Himmelreich, Chefredakteurin von VICE Deutschland, bestätigten diese Thesen eindrucksvoll. Die Plattform erreicht mit ihren Angeboten zur Zeit rund acht Millionen Menschen zwischen 19 und 34 Jahren in Deutschland. Und das mit einer Arbeitsweise, die sich letztendlich auf einen einfachen Nenner bringen lässt: "Produzieren Sie die Dinge, für die Sie eine Leidenschaft haben", rief sie den Teilnehmenden zu, "und lassen Sie die jungen Leute das selbst machen!" VICE habe den Anspruch, Geschichten zu erzählen, die man sonst nicht findet – oder aus einer Perspektive, die es sonst nicht gibt. Und so gehe man am Wahlabend zum Beispiel nicht in irgendeine Parteizentrale, sondern sei mit einem Wahlbeobachter von der AfD unterwegs. Da war es wieder, das Gewohnheiten brechen. Und auch sie bestand – wie Karin Schlüter - darauf, dass es letztendlich um das Geschichtenerzählen ginge.
Auch über Alexa will man gute Geschichten hören
Wo Schlüter formulierte, dass die Kernkompetenzen mitgenommen werden müssten, egal in welche Art von Medium (schließlich wolle man auch über den intelligenten Amazon-Lautsprecher "Alexa" gute Geschichten hören), erklärte Himmelreich, dass bei VICE immer zuerst die Geschichte stünde. Dann erst werde entschieden, wie und in welchem Medium sie umgesetzt würde, ob als 30-minütiges Video oder nur als Instagram-Post.
Der Netzaktivist Shahak Shapira vertritt eine ähnliche Theorie. Für ihn besteht eine Idee, die sich erfolgreich verbreitet, aus zwei Komponenten: Einer interessanten Beobachtung, dem "Insight", und der jeweils dazu passenden Mechanik der Umsetzung und Verbreitung. Wenn Twitter also keine Hass-Tweets löscht, ist es vielleicht an der Zeit, diese zu sammeln und vor der Zentrale auf die Straße zu sprühen, um maximale Aufmerksamkeit zu bekommen. Wie Shapira es dann auch tatsächlich tat.
Vor dem Neuen sind wir alle Laien
Es muss also nicht immer die technische Neuerung an sich sein, die die Innovation ausmacht. Schließlich ist das "Neue" an sich oftmals so unbeliebt, einfach weil es neu ist, wie die Autorin Kathrin Passig so augenzwinkernd wie treffend feststellte. Sogar Edisons elektrisches Licht wurde anfangs in der Zeitung als völlig überflüssig zerrissen, wie sie zeigte. Von diesen Widerständen dürfe man sich aber nicht entmutigen lassen, so ihr Plädoyer, denn: "100 Prozent von allem hat schließlich Nachteile!" Es ginge vielmehr darum, offene Fragen auszuhalten und anzuerkennen, dass wir in Wahrheit vor dem wirklich Neuen alle Laien seien.
Dominik Born, Leiter des Entwicklungslabors des Schweizer Rundfunks (SRF), unterstrich dies eindrucksvoll. Auch er sprach von den Emotionen, die Veränderungen vorantreiben: "Man muss der Lust eine Chance geben, statt Panik zu machen!" Dabei müsse man Widerstände nicht nur aushalten, sondern manchmal auch darunter hindurchtauchen. Dann komme es nur noch darauf an, beim Ausprobieren die Fehler nicht gerade zu umarmen, sondern möglichst gering zu halten, kleine Schritte zu gehen und die Leidenschaft ("passion pressure") zu bewahren. So könnten dann auch Auswüchse überstanden werden, wie das "Hashtag-Genehmigungs-Formular", das das Social-Media-Team des ZDF einmal erfunden hatte.
So steht am Ende des Tages die Erkenntnis, dass das mutige Ändern von Gewohnheiten und der geweitete Blick, zusammen mit der Kompetenz zum Geschichten erzählen und dafür die richtigen Formen zu wählen, den Online-Journalismus gegenwartsfähig machen. Wenn man dann noch die alte Weisheit beherzigt, dass nicht jeder Mist Dünger ist, lässt sich auch sicher durch die digitale Sintflut schiffen.