Ivan Lefkovits erinnert sich vor allem an den unbeschreiblichen Durst. "In den letzten Tagen hatten wir kein Wasser mehr", sagt der 81-Jährige. Er war acht, als britische Soldaten ihn am 15. April 1945 gemeinsam mit seiner Mutter aus dem niedersächsischen Konzentrationslager Bergen-Belsen befreiten. Da wog er noch neun Kilogramm. In einer Sonderausstellung rückt die Gedenkstätte Bergen-Belsen bei Celle ab Sonntag erstmals umfassend das Schicksal von Menschen in den Mittelpunkt, die wie Ivan Lefkovits als Kinder in dem KZ eingesperrt waren.
"Was mir in Erinnerung bleibt, sind die Feuerlöschbecken voller Wasser", sagt Lefkovits. "Darin schwammen Leichen und Exkremente." Seine Mutter habe ihm streng verboten, daraus zu trinken. Andere hätten sich in ihrer Not daran nicht gehalten. "Sie sind gestorben." Der aus der Tschechoslowakei stammende Jude Lefkovits überlebte und machte später in der Schweiz Karriere als Biochemiker. Mit der Ausstellung will die Gedenkstätte den jüngsten Zeugen der NS-Verbrechen eine Stimme geben. Ein Thema, das bisher vernachlässigt wurde, sagt Kuratorin Diana Gring.
Unter rund 120.000 Menschen aus fast allen europäischen Ländern waren in Bergen-Belsen auch etwa 3.500 Kinder unter 15 Jahren inhaftiert, die meisten von ihnen Juden. Schätzungen zufolge starben dort rund 800 Kinder. Genaue Zahlen gibt es nicht, weil die SS die Lagerregistratur vernichtet hat, erläutert der Leiter der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten, Jens-Christian Wagner. "Von einem großen Teil von ihnen wissen wir nicht einmal den Namen."
Mehr als 120 Video-Interviews haben die Historiker der Gedenkstätte seit 1999 mit Menschen geführt, die noch keine 15 Jahre waren, als Bergen-Belsen von britischen Truppen befreit wurde. Für die Ausstellung "Kinder im KZ Bergen-Belsen" bilden die Filme den Hintergrund. Mit Kapiteln wie Hunger und Sterben, aber auch Familie oder Spiele geben dabei neben 20 Filmstationen auch Fotos, Dokumente und Erinnerungsstücke von Überlebenden einen Einblick in die Kindheit im Lager.
Auch eine Nachbildung der Strick-Puppe "Mies" ist in einer Vitrine zu sehen. Lous Steenhuis-Hoepelman hat diese Puppe aufbewahrt. Das Original trägt die 76-Jährige aus den Niederlanden bei einem ersten Rundgang durch die Ausstellung mit sich. "Diese hässliche Puppe konnte ein kleines bisschen Geborgenheit geben", sagt sie. Lous Hoepelman war erst drei, als sie 1944 ins KZ verschleppt wurde. Jemand hatte ihr Versteck bei Pflegeeltern verraten, in dem ihre jüdischen und im Widerstand engagierten Eltern das Mädchen in Sicherheit wähnten. Über das niederländische Lager Westerbork kam sie nach Bergen-Belsen - ohne Eltern auf sich gestellt. Die Puppe "Mies" war alles, was sie bei sich trug.
Der Vater der Niederländerin wurde in Auschwitz ermordet. Die Mutter überlebte in verschiedenen Verstecken. Das Mädchen wurde nach zwei Monaten in Bergen-Belsen weiter ins Lager Theresienstadt deportiert. Ihre eigene Erinnerung setze erst nach ihrer Befreiung ein, sagt Lous Steenhuis-Hoepelman heute. "Nach dem Krieg fühlte ich mich wie eine Prinzessin, als etwas Besonderes, weil ich noch da war und deshalb auch besonders behandelt wurde."
Als verlässliche Zeitzeugen seien die Kinder lange Zeit nicht gesehen worden, sagt Ausstellungskuratorin Gring. Manchmal seien es nur Bruchstücke, an die sich Menschen erinnerten, die in jungen Jahren inhaftiert waren. Doch diese hätten sich umso tiefer in ihre Seele gebrannt. "Wir wollen deutlich machen: Was sie erlebt haben, ist ernst zu nehmen." In 14 Biografien zeichne die Ausstellung auch den weiteren Lebensweg von Kinder-Überlebenden nach, sagt Wagner.
Zur Eröffnung am 73. Jahrestag der Befreiung am Sonntag wollen rund 20 der Frauen und Männer unter anderem aus Kanada, den USA, den Niederlanden, der Schweiz, Israel und Frankreich nach Bergen-Belsen kommen. Ivan Lefkovits und Lous Steenhuis-Hoepelman gehören zu denjenigen, die sich seit einigen Jahren darum bemühen, dass die Erinnerung an die Verbrechen der Nazi-Zeit nicht verblassen.
Jetzt im Alter beschäftige sie ihre früheste Kindheitsgeschichte mehr als früher, sagt die Niederländerin. Die pensionierte Sozialarbeiterin aus Amsterdam erzählt vor Schulklassen aus ihrem Leben. Die Puppe "Mies" hat sie dann immer dabei.