Nach dreißig Minuten sitzt keiner der Besucher mehr auf seinem Stuhl. Alle wiegen sich, tanzen, haben die Arme erhoben, rufen Hallelujas. Vorne auf der Bühne rockt der Chor, ein junger Mann mit einer Gitarre hüpft auf und ab. Dutzende von Lautsprechern übertragen den Ton, vier Kameras filmen das Geschehen, übertragen abwechselnd den Chor, den Gitarristen oder das Publikum auf eine riesige Leinwand. Leise surren die Klimaanlagen.
Der Gitarrist legt seine Gitarre beiseite, ergreift ein Mikrofon, er hat sein schwarzes Jackett ausgezogen, das weiße Hemd klebt an ihm, Schweiß rinnt über sein Gesicht. "Und nun alle", schreit er, "zeigt Jesus, dass ihr ihn liebt, lasst euch fallen in die Hände des Herrn." Der Chor tritt nach vorne an den Bühnenrand in Engelskleidern. "You can move mountains." Die Menge fällt in das Lied ein, auf der Leinwand blinken nun abwechselnd Sterne und fließen Bächlein durch Blumenwiesen.
Gotteshäuser so groß wie Flugzeug-Hangars
Es ist Sonntagmorgen, 10.30 Uhr in der Covenant Christian Church in Lagos, der größten Stadt Nigerias. "Covenant", das bedeutet "sich verpflichten", "sich binden" - und genau das zu erwirken, ist die Botschaft dieses Gottesdienstes. Es ist der vierte an jenem Morgen, seit 5.30 Uhr ist Pastor Poye Ojumade, dem diese Kirche untersteht, im Dienst. Mit Hilfe seiner Vorbeter, des Chores und der Leinwand-Show heizt er seinem Publikum so lange ein, bis auch der letzte willig und großzügig Geld in einen der Opferstöcke wirft, die meisten rund ein Zehntel ihres Wochenverdienstes. Für jene, die große Summen spenden wollen, liegen auf allen Sitzen‚ Briefumschläge, ab 300.000 Naira, rund 850 Euro, wird man namentlich erwähnt, für höhere Summen gibt es Urkunden und Ehrenämter. Wer online spenden möchte, der kann seine Kreditkarte einsetzen oder über Zahlungsportale gehen.
In Nigeria leben nahezu 184 Millionen Menschen. Der Süden ist mehrheitlich christlich, der Norden muslimisch. 40 bis 45 Prozent der Bevölkerung sind Christen, durchschnittlich also 80 Millionen Menschen. 19 Millionen Menschen gehören der römisch-katholischen Kirche an, 17 Millionen der anglikanischen Church of Nigeria, die damit die zweitgrößte anglikanische Kirche nach der Church of England ist. Die anderen Christen, rund 40 Millionen oder noch mehr, sind Mitglieder der rasant wachsenden Zahl der Pfingstkirchen, zu deren Gemeinschaft auch die Covenant Christian Church gehört. Ihre Mitglieder sind "born-again-christians", Christen, die ein Erweckungserlebnis gehabt haben. Laut der Bertelsmann-Stiftung ist Nigeria der religiöseste Staat der Welt.
Im ganzen südlichen Nigeria, vornehmlich in Lagos, entstehen immer neue und immer größere Gotteshäuser, die Häuser zu nennen, untertrieben ist. Es sind Hallen, groß wie Flugzeug-Hangars - so wie die einen Quadratkilometer große Redeemed Christian Church of God - und manche wie die gerade entstandene Elevation Church auf der zu Lagos gehörenden Halbinsel Lekki, haben die Form riesiger Kathedralen. 200.000 und mehr Menschen finden in diesen Gotteshäusern Platz, die Baukosten dafür liegen bei vielen Millionen Dollar.
Die Konkurrenz ist groß unter diesen Kirchen. Um auf der Top-Liste zu bleiben, fahren die Pastoren und selbsternannten Apostel schwere Geschütze wie Teufelsaustreibung oder Wunderheilung auf. Da können Blinde sehen, Lahme gehen, Aidskranke sind geheilt. Da fährt Satan während des Gottesdienstes aus Dutzenden von Menschen, die sich erst in Pein am Boden wälzen und dann errettet der Gemeinde vorgeführt werden. Um Gläubige anzulocken, bieten die Kirchen Seminare über eheliche Treue, Widerstand gegen Versuchungen, Gottesvertrauen und den Zusammenhang zwischen Geld und Gnade an. Andere werben mit markanten Botschaften. Auf der Webseite der Elevation Church prangt eine Faust, die aussieht wie aus der Mottenkiste des Klassenkampfes und darunter der Slogan: "victory through prayer", Sieg durch Gebet.
Die Pastoren dieser Kirchen sind Millionäre und Multimillionäre, mindestens ein Dutzend von ihnen besitzt Privatjets, Yachten, Paläste oder gleich alles drei. Ihre Namen stehen auf der alljährlichen Forbes-Liste der reichsten Menschen der Welt. An erster Stelle: David Oyedepo, Pastor der Living Faith Church, dessen Vermögen auf 150 Millionen Dollar geschätzt wird, ihm folgt Chris Oyakhilou, der nicht nur Kirchen baute – 5000 sollen ihm allein in Nigeria gehören, dazu 63 weitere auf der ganzen Welt – sondern auch zwei Universitäten und eine Elite-Highschool. Oyakhilous Vermögen: wahrscheinlich 50 bis 80 Millionen Dollar, genau weiß das niemand. Nigerias Kirchen werden nicht besteuert, sie gelten als Nonprofit-Organisationen. Doch allein die Investitionen, die mit den Geldern aus Spenden und Opferstöcken getätigt werden, tragen erheblich zur nigerianischen Wirtschaft bei und allein deshalb werden Kritiker, die beklagen, das alles sei nichts weiter als big business, große Geschäftemacherei, ignoriert. 2001 wurde gegen Oyakhilou ermittelt, weil er 30 Millionen Dollar an Spendengeldern seiner Kirchenmitglieder auf ausländische Konten transferiert hatte. Die Ermittlungen wurden jedoch fallen gelassen. Zu Oyakhilous 60. Geburtstag erschienen ehemalige Staatspräsidenten, Minister und die Elite des Geldes.
Viel Geld für die Kollekte
In diesen unheiligen Kirchenhallen sind die Gottesdienste organisiert wie Massenevents: es gibt Einweiser für die Parkplätze, einen Shuttle-Service mit Bussen für jene, die weiter entfernt wohnen, es gibt ein Willkommensteam in der Kirche, das wie Messe-Hostessen die Kirchgänger zu den Plätzen geleitet, Sanitäter, Vorprediger und Vorbeter, ein Kamerateam, ein Social-Media-Team, kircheneigene Reporter. Pastoren werden verehrt wie Superstars und manche von ihnen treten auch so auf.
Die wahnwitzigste Show liefert Apostel Johnson Suleman ab, ein Wanderprediger, der in ganz Afrika und auch in Europa auftritt. Er kleidet sich bevorzugt in Glitzeranzüge, zelebriert auf dem Höhepunkt seiner Predigershows spektakuläre Wunderheilungen und behauptet, das göttliche Mandat zu haben, "Tränen zu trocknen." Sulemans Predigten werden live auf einem eigenen Kanal übertragen, auf Twitter folgen ihm 136.000 Menschen, seine Facebook-Seite haben 250.000 Menschen geliked.
"Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks." Man muss an diese Sätze Karl-Marxs denken, wenn man in Lagos in eine Debatte darüber gerät, warum die Kirchgänger ihren ohnehin reichen Pastoren immer noch mehr Geld spenden, warum es keine Empörung über diese unchristliche Geldanhäufung gibt. Papst Franziskus' Botschaft, ein wahrer Christ sollte arm sein – in Nigeria ruft dies Kopfschütteln hervor. "Wer Gott auf seiner Seite hat, der ist reich und wer arm ist, dem fehlt es an göttlicher Gnade", erklärt Samuel Osadze, ein junger nigerianischer Künstler. Osadze, Mitte 30, sieht das System der Geldeintreibung durch die Megakirchen durchaus kritisch, doch weil ihm von früher Kindheit an gepredigt wurde, nur Gebet und Geldopfer würden zum Glück führen, wagt er es nicht, sich von der Kirche abzuwenden. "Immer, wenn ich es tue, passiert irgendetwas und dann gehe ich lieber wieder zum Gottesdienst und gebe mein Geld in die Kollekte".
Sonntäglicher Kirchgang gibt Hoffnung
"Spiritueller Reichtum und finanzieller Reichtum sind in unserem Land untrennbar miteinander verbunden", erklärt Ebun Ikenze, die nach vielen Jahren in London 2015 wieder nach Lagos zurückkehrte und sagt, ihr größter Rückkehr-Kulturschock seien die Gottesdienste und die Geldgier gewesen. Ikenze ist Betriebswirtschaftlerin, sie kam in ihre Heimat zurück, weil sie Lagos spannender als London findet. Das Geprahle ihrer Umwelt aber hat sie sehr befremdet. "In Nigeria reden wir immer über Geld. Es bestimmt unser gesamtes Leben. Und manche von uns denken, es bestimmt auch Gott."
Lagos wächst täglich um einige Tausend Bewohner und das Überleben ist ein gnadenloser Kampf. Dreck, Chaos, Lärm, Elendsviertel gleich neben exklusiven Wohngebieten für die Reichen, Bedrohung durch Klimawandel – es gibt viele Gründe, in dieser Stadt zu verzweifeln. Was den Menschen Antrieb gibt, ist der unbedingte Glaube an Aufstieg, jede Rags-to-Riches-Geschichte wird in dieser Stadt wie eine Wundererzählung aufgenommen und weitergetragen. Der sonntägliche Kirchgang ist daher mehr als das in Afrika übliche soziale Event nach einer harten Woche, mehr als die stundenweise Erlösung von Leid und Not. Es ist die Hoffnung, Gott möge einen sehen und mit Reichtum beschenken. "Und weil wir denken, Gott schaut nur auf die Reichen, geben wir dem Pastor viel Geld und hoffen, dass von Gottes Blick auf ihn ein Nebenblick auf uns abfällt", sagt Ikenze.
Mit diesem Glauben daran, dass der Weg zu Gott nur über ihn und Geldspenden läuft, spielt auch Pastor Ojumade. Er taucht erst in den letzten 30 Minuten des fast zweistündigen Gottesdienstes auf. Da haben seine Vorbeter, der Chor und die Band die Gläubigen bereits zu Tränen und Lobpreisungen bewegt, hat die Menge schon enthusiastisch getanzt und gesungen. Wie die meisten Pastoren der Pfingstkirchen in Nigeria hat Ojumade kein theologisches Studium, sondern nur eine informelle theologische Ausbildung. Er gründet seine Autorität auf Berufung.
Die Covenant Christian Church ist gegen die egomanischen Glaubensspektakel in den Großkirchen schon fast ein Ort der Seriösität. In die drei zu ihr gehörenden Gotteshäuser passen jeweils nur einige Tausend Gläubige, und nicht alle Bänke sind zu jedem Gottesdienst besetzt. Zum Superstar fehlen Ojumade noch viele Meilen. Seine Predigt an diesem Tag hat die Botschaft, der Mensch solle aufhören, selber denken und handeln zu wollen: Ein Vater versuche, seinen missratenen Sohn auf den rechten Weg zurückzubringen, doch es wolle ihm nicht gelingen, alle Erziehung schlage fehl. Bis der Vater verstehe, er müsse das Problem Gott überlassen. "Übergebt euch Gott", ruft Ojumade, "und vergesst nicht, euer Geld mit den Armen zu teilen." Dann werden von jungen Männern mit Anzug und Krawatte die Opferstöcke durch die Reihen getragen, noch einmal singt der Chor das Lied vom Berge-versetzenden Jesus. Osadze wirft ein paar Scheine ein, der Opferstockträger zieht kritisch die Augenbrauen hoch und brav fügt der Künstler noch ein paar weitere Scheine hinzu.