Auf einen Rollator gestützt und von Sanitätern begleitet, betritt ein weißhaariger alter Mann den Gerichtssaal. Nachdem das Urteil gegen ihn gesprochen ist, braucht er mehrere Anläufe, um sich wieder zu erheben. Oskar Gröning ist 94 Jahre alt, als er am 15. Juli 2015 schuldig gesprochen wird. Das Landgericht Lüneburg verurteilt ihn wegen Beihilfe zum Mord im Vernichtungslager Auschwitz in 300.000 Fällen zu vier Jahren Haft. Antreten muss der frühere SS-Mann seine Strafe jetzt nicht mehr, auch wenn mehrfache Gesuche auf Haftaufschub scheiterten. Zuletzt sollte der niedersächsische Justizministerin über ein Gnadengesuch entscheiden. Gröning starb einem Schreiben seines Anwalts an die hannoversche Staatsanwaltschaft zufolge bereits am vergangenen Freitag im Alter von 96 Jahren im Krankenhaus.
Nach Auffassung des Lüneburger Gerichtes leistete Gröning allein durch seine Tätigkeit in Auschwitz einen Beitrag zum hunderttausendfachen Mord, ohne dass ihm eine konkrete Tötung nachgewiesen wurde. In dem Prozess gestand der Witwer und Vater zweier Kinder eine moralische Mitschuld ein, wies aber eine eigene Tatbeteiligung zurück. Anders als andere NS-Täter sprach er aber offen über die Vorgänge im Lager und seinen persönlichen Werdegang, wie ihm der Vorsitzende Richter Franz Kompisch bei der Urteilsbegründung zugutehielt.
Der junge Sparkassenkaufmann aus dem niedersächsischen Nienburg trat 1940 freiwillig der SS bei. Das Elternhaus sei deutschnational und kaisertreu geprägt gewesen, sagte er. "Ich wollte einer zackigen Truppe angehören." Von den Vorgängen in dem Lager, in dem allein im Frühsommer 1944 mindestens 300.000 zumeist jüdische Menschen in Gaskammern getötet wurden, habe er nicht gewusst, bevor er dort im September 1942 seinen Dienst antrat. Gröning verwaltete das Geld, das den Ankommenden abgenommen wurde. Einige Male bewachte er das Gepäck an der Rampe, von der aus die Menschen in den Tod getrieben wurden. Wissentlich und willentlich hat er damit nach Ansicht des Gerichtes die Tötungsmaschinerie von Auschwitz unterstützt.
Gleich nach seiner Ankunft hätten Kameraden bei einem Wodka-Gelage erzählt, nicht arbeitsfähige Menschen würden "entsorgt", sagte er in der Verhandlung. So sei der "Jargon" im Lager damals gewesen. Gelegentlich fiel Gröning selbst in diesen Jargon zurück und entsetzte damit die Zuhörer, unter denen auch Überlebende des Lagers waren. "Die Kapazität der Gaskammern oder auch der Krematorien war reichlich begrenzt", sagte er. Und weiter: "Man rühmte sich, dass man in 24 Stunden 5.000 Tote entsorgen konnte."
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Gröning berichtete aber auch von Ereignissen, die ihn erschüttert hätten. Davon, wie ein SS-Führer auf brutale Weise ein Baby ermordete, in dem er es gegen einen Lkw schlug. Ihm sei klargeworden, dass er im "falschen Boot" gelandet sei. Ob er tatsächlich dreimal seine Versetzung an die Front beantragt hat, wie er aussagte, blieb allerdings unbewiesen. Im Oktober 1944 wurde er schließlich versetzt.
Mehr als 60 Überlebende und Angehörige von Opfern traten in dem Verfahren als Nebenkläger auf. Insgesamt 15 der oft hochbetagten Frauen und Männer waren unter anderem aus Kanada, den USA oder Ungarn nach Lüneburg gekommen. Ihre Lebens- und Leidensgeschichten prägten den Prozess. Berichte wie der von Eva Pusztai-Fahidi: Sie schilderte, wie sie als 18-Jährige am frühen Morgen des 1. Juli 1944 nach der Selektion an der Rampe in Auschwitz ihre Eltern und ihre elfjährige Schwester verlor, die vergast und deren Leichen verbrannt wurden.
Zwar wirkte Gröning auf manche Beobachter unbeteiligt, als die Überlebende von ihren Qualen und den Morden an ihren engsten Angehörige erzählten. Mehrfach mussten Verhandlungstermine wegen seiner angeschlagenen Gesundheit ausfallen. Doch stellte er sich dem Verfahren bis zum Ende. "Auschwitz war ein Ort, an dem man nicht mitmachen durfte", griff er zum Schluss Worte der Nebenklageanwälte auf. Angesichts der Dimension der dort verübten Verbrechen stehe es ihm nicht zu, die Opfer um Vergebung zu bitten. "Um Vergebung kann ich nur meinen Herrgott bitten."
Das Verfahren gegen den von Medien auch "Buchhalter von Auschwitz" genannten Mitarbeiter der Devisenabteilung des Lagers schrieb Rechtsgeschichte. Jahrzehntelang hatte sich die deutsche Justiz dagegen gesperrt, Wachleute und sonstige Helfer allein wegen ihrer Rolle als "Rädchen im Getriebe" der Mordmaschinerie in den Vernichtungslagern der Nazis wegen Beihilfe zum Mord zu verurteilen. Auch gegen Gröning waren frühere Ermittlungen eingestellt worden.
Für die Überlebenden aber war zentral, dass endlich ein rechtskräftiges Urteil das Unrecht bestätigte, das an ihnen verübt wurde. "Jahrzehnte gab es diese Lücke in der deutschen Justiz. Jetzt ist diese Lücke geschlossen", sagte Pusztai-Fahidi, nachdem der Bundesgerichtshof die Lüneburger Entscheidung schließlich bestätigte. "Jetzt ist alles an seinem Platz."