Der kleine Chor singt inbrünstig. Der Priester, Vater Serafim, liest aus den heiligen Schriften. Er und seine Diener beten rund um den Altar. An den Wänden hängen zahlreiche Ikonen. Die Menschen bekreuzigen sich. Es ist ein typischer russisch-orthodoxer Gottesdienst. Er könnte in Moskau, Minsk, Grodno, Omsk oder in solch kleinen Dörfern wie Jegorlykskaja in der Region Rostow am Don stattfinden. Doch nichts dergleichen, das alles geschieht am Sonntagmorgen um zehn Uhr im ostfriesischen Leer.
In der Kreisstadt mit ihren etwas mehr als 34.000 Einwohnern ist die russisch-orthodoxe Gemeinde in den vergangenen zwölf Jahren Stück für Stück gewachsen: von zehn bis 20 im Jahr 2006 auf bis zu 100 Menschen im Jahr 2018. Dies, meint der Kirchenälteste Peter Kahnt, habe zwei Ursachen: Den Menschen, die aus der ehemaligen Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten nach Deutschland gekommen sind, biete die Gemeinde "ein Stück ihrer alten Heimat". Aber auch von den jüngeren Migrationsbewegungen profitiere die Gemeinde, sagt Kahnt, beispielsweise kämen viele orthodoxe Rumänen.
Als es die Gemeinde in Leer noch nicht gab, mussten die Gläubigen entweder nach Oldenburg oder nach Bremen reisen. Kahnt sagt: "Wir waren wie Nomaden." Dann habe sich Sofia Heinze bereiterklärt, den Bau eines eigenen Gemeindezentrums mit Kirche aus ihrem Privatvermögen zu finanzieren. Sie sei eine entfernte Verwandte des Heiligen Erzbischof Hilarion von Wereja. Nach ihm ist die Gemeinde benannt worden, allerdings in der deutschen Schreibweise – sie trägt den Namen Heiliger Ilarion von Wereja.
Die ersten Jahre ging es in der Gemeinde ziemlich beengt zu. Doch im vergangenen Jahr weihte die Gemeinde einen neuen Anbau. "Und das fast alles in Eigenarbeit", freut sich Kahnt. Glücklicherweise gebe es unter den Gemeindemitgliedern einen Maurer, einen Fliesenleger und einen Installateur. Sie hätten das Projekt "Anbau" fast in Eigenarbeit gestemmt. Jetzt habe die Gemeinde die Möglichkeit, zu einem Begegnungszentrum verschiedener Gruppen zu werden. Dabei möchten sich die Christen jedoch nicht auf die kirchlichen Zusammenhänge beschränken. Vereine, Verbände und Initiativen seien willkommen. Kahnt fasst es so zusammen: "Alles das, was das russische Leben darstellt."
Aus der Sicht von Vater Serafim ist die Gemeinde für die Menschen ebenfalls "ein Stück alter Heimat". Auch wenn sie in der Regel schon viele Jahre in Deutschland lebten, gehörten das heutige Russland beziehungsweise die Länder der früheren Sowjetunion zu ihrer Identität. Vor diesem Hintergrund ist es der Gemeinde unter anderem wichtig, die russische Sprache an die Kinder weiterzugeben. So auch an diesem Gottesdienst-Sonntag: Während die Erwachsenen der Predigt folgen, lernt eine kleine Gruppe von Kindern die Sprache ihrer Eltern. Ihre Lehrerin achtet sehr darauf, dass sie untereinander nicht Deutsch sprechen.
Gegen zwölf Uhr ist Schluss. Die Tische werden für das nach jedem Gottesdienst folgende Beisammensein eingedeckt. Ganz im Sinne der Tradition dürfen Essen und Trinken nicht fehlen. Einige Leute bringen auf Russisch und auf Deutsch einen Toast aus. Die Menschen prosten sich zu. Sie haben gute Laune und einige richten ihr kleines oder großes Anliegen an Vater Serafim.
Er selbst ist Niederländer. Das Priesteramt bekleidet er ehrenamtlich. Seinen Lebensunterhalt verdient sich Vater Serafim als Reiseleiter. Deshalb ist er auch nicht finanziell abhängig von der zuständigen Berliner Diözese der Russischen Orthodoxen Kirche, die zum Moskauer Patriarchat gehört. Doch das ist für den Geistlichen zweitrangig. Für ihn sei es wichtig, Gottes Wort zu verkünden, erklärt er mit einem gut gelaunten Lächeln.
"Die Taufe ist der Hinweis auf die eine Kirche"
"Das Orthodoxe ist der Mittelweg zwischen dem Protestantischen und dem Katholischen", sagt Vater Serafim. Die orthodoxen Kirchen glauben, dass Brot und Wein wirklich Leib und Blut Christi sind. Ihre Liturgie weist Parallelen zum jüdischen Tempelgottesdienst auf. Im Unterschied zur katholischen Transsubstantiationslehre gibt es hier allerdings keine Wandlungsworte. Das Mysterium geschieht vielmehr durch die ganze Liturgie. Die Anrufung des Heiligen Geistes, der Epiklese, ist das zentrale Ereignis während des orthodoxen Abendmahls.
Mit Blick auf den 500. Geburtstag der Reformation stellt Vater Serafim klar, dass sie für die orthodoxe Kirche nicht so wichtig sei. "Von den 95 Thesen sind das Verbot des Ablasshandels und das Praktizieren des Glaubens in der Volkssprache wichtig." Die orthodoxe Kirche habe sich schon immer der Volkssprache verpflichtet gefühlt.
Für die Orthodoxie spiele auch heute noch die Kirchenspaltung, das Schisma von 1054, eine viel größere Rolle. Aus ihr sind die russisch-orthodoxe und die griechisch-orthodoxe Kirche hervorgegangen. Sie erkennen bis heute die Autorität der römisch-katholischen Kirche und des Papstes nicht an. Dies, ist Vater Serafim überzeugt, ist bis heute eine kirchengeschichtliche "Wunde". Vor diesem Hintergrund tue sich die orthodoxe Kirche immer noch schwer mit der Ökumene. Gottesdienste mit Katholiken und Protestanten feiern die Leeraner nicht. Aber, ergänzt der Geistliche, die Taufe sei ein Hinweis auf die Einheit der Kirche. Die Taufen werden von den christlichen Kirchen gegenseitig anerkannt - im Gegensatz zum Abendmahlsverständnis.
Gleichwohl sind nach Meinung vieler Theologen Protestanten und Orthodoxe weiter auseinander als Orthodoxe und Katholiken. Dies liegt an der bischöflichen Organisation beider Kirchen und daran, das die römisch-katholische und die orthodoxen Kirchen einige ethische Themen ähnlich sehen. Sie äußern sich kritisch gegenüber Homosexualität und Abtreibung und lehnen Frauenordination ab. "Christus hat als Apostel keine Frauen ausgewählt", begründet Vater Serafim diese Position. Am Ende aber komme es auf die Menschen an, denn Kirche funktioniere mit Respekt. Dies betont auch Kahnt: "Bei uns ist für jeden eine Tür offen."