"Freunde, Kameraden, das Licht in unserem Leben ist erloschen und es herrscht Dunkelheit überall". Mit diesen Worten wandte sich der indische Premierminister Jawaharlal Nehru am 30. Januar 1948 über das Radio an die junge Nation. Nur Stunden zuvor wurde Mahatma Gandhi von einem Hindu-Nationalisten ermordet. Der Tod des 78-jährigen Unabhängigkeitskämpfers schockierte das Land.
Indien war nur ein paar Monate zuvor unabhängig geworden, und der Erfolg galt als ein Verdienst Gandhis, der mit seinem gewaltfreien Widerstand die britische Kolonialmacht in die Knie gezwungen hatte. Mehr als zwei Millionen Menschen folgten dem Trauerzug durch die Hauptstadt.
Nathuram Godse, der drei Kugeln auf Gandhi abgefeuert hatte, wurde noch am Tatort festgenommen und ein Jahr später gehängt. Die Regierung nahm Hunderte Mitglieder des hindu-nationalistischen Freiwilligenkorps Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) fest, dem Godse angehörte. Dass ausgerechnet ein RSS-Mitglied Indiens Unabhängigkeitskämpfer und Idol Mahatma Gandhi 1948 ermordet hatte, lastete lange als hässlicher Schandfleck auf der Organisation, deren Gründer sich an der Hitlerjugend orientiert hatten.
Harmonisches Miteinander in Gefahr
Noch lange hatten es Indiens Hindunationalisten schwer, größere Teile der Bevölkerung zu erreichen. Mit ihrer extremen Ideologie wurden sie von der Ober- und Mittelschicht des Landes oft nur müde belächelt. Doch 70 Jahre nach dem Tod Gandhis hat sich das geändert: Seit Premierminister Narendra Modi an der Macht ist, ist die Weltanschauung des RSS in neuen Kreisen hoffähig geworden. Modi ist seit seiner Jugend RSS-Mitglied. Mit klugem politischen Kalkül weitet der Politiker seine Basis aus und bereitet einem hinduistischen Indien den Weg.
Manche sehen Gandhis Vermächtnis der Toleranz und des harmonischen Miteinanders in Gefahr. Gandhis Enkel, Arun Gandhi, kritisierte kürzlich Modis Philosophie: "Sie ist sehr engstirnig, zentriert auf den Hinduismus. In diesen Zeiten müssen wir unsere Perspektiven erweitern und nicht enger machen".
Doch Modi selbst beruft sich gern auf Gandhi: So zitierte er kürzlich den spirituellen Führer Indiens als Vorkämpfer für eine offene Weltordnung: "Ich will nicht, dass die Fenster meines Hauses geschlossen werden", so sei die Vision des Freiheitskämpfers gewesen, die bis heute gelte. "Ich will, dass der Wind durch das Haus weht."
Der Wind in Indien ist allerdings seit Modis Amtsantritt 2014 für viele schärfer geworden. Das Land war lange stolz auf seine religiöse Toleranz, doch inzwischen mehren sich Angriffe auf Oppositionelle, Journalisten, Schriftsteller und Künstler, Schikanen gegen internationale Hilfsorganisationen und Mob-Gewalt gegen religiöse Minderheiten.
Zudem provozieren führende Politiker von Modis Regierungspartei gezielt Nicht-Hinduisten: Der Regierungschef des Bundesstaates Uttar Pradesh, Yogi Adityanath, erklärte vor einigen Monaten, das berühmte Taj Mahal, ein Meisterwerk islamischer Kunst aus dem 17. Jahrhundert, repräsentiere nicht die indische Kultur. In Uttar Pradesh, wo jeder fünfte Einwohner Muslim ist, wiegt so eine Aussage doppelt schwer.
Im Jahr 1947 hatten sich hier Millionen Muslime dazu entschieden, nicht in die neu gegründete islamische Republik Pakistan auszuwandern, und statt dessen Indiens Versprechen eines pluralistischen und säkularen Staates ernst genommen. Etwa 80 Prozent der indischen Bevölkerung sind Hindus, Muslime stellen mit etwa 170 Millionen die zweitgrößte Religionsgruppe.
Als Gandhi im Januar 1948 erschossen wurde, hatte der Begründer des gewaltfreien Widerstandes gerade einen neuen Hungerstreik begonnen. Schockiert von der religiösen Gewalt zwischen Muslimen und Hindus nach der Teilung von Indien und Pakistan hatte er beschlossen, er werde erst wieder essen, "wenn ich davon überzeugt bin, dass die Herzen aller Gemeinschaften vereint sind". 70 Jahre nach Gandhis Tod scheint dieses Ziel noch in weiter Ferne.