kommentar
Illustration: evangelisch.de/Simone Sass
Du sollst nicht töten: Abtreibungsverbote und christliche Ethik
Journalistin Antje Schrupp spricht sich in ihrem Gastkommentar über Abtreibungsverbote dafür aus, die Radikalität des christlichen Tötungsverbots ernstzunehmen. Das bedeute auch, dass die Kirche darauf verzichten muss, es mit Hilfe staatlicher Gewalt durchzusetzen.

Das Christentum gilt vielen als frauenfeindliche Religion, und diesem Ruf scheint auch die evangelische Kirche in diesen Tagen wieder gerecht werden zu wollen. Aus Anlass der Debatten über den § 219 a, der Ärztinnen nicht nur Werbung für Abtreibung verbietet, sondern ganz generell Informationen über den Eingriff, beziehen Bischöfe ebenso wie der evangelikal-konservative Flügel lautstark Position: Diese Gesetze müssen bleiben!

Woher kommt diese "fundamentalistische" Haltung des Christentums bei diesem Thema?  Es ist, auch wenn viele Feministinnen das glauben, nicht in erster Linie Frauenfeindlichkeit, die dahinter steckt. Dass sich die Kirche hier – ebenso wie übrigens auch bei Themen wie Sterbehilfe oder Pränataldiagnostik – besonders stark gegen den gesellschaftlichen Mainstream stellt, liegt vielmehr daran, dass das Thema einen zentralen Aspekt der christlichen Ethik berührt: das fünfte Gebot "Du sollst nicht töten".

Das Christentum hat dieses Gebot traditionell besonders radikal ausgelegt. Menschen, die getötet hatten, aus welchen Gründen auch immer, wurden in vielen frühen christlichen Gemeinden vom Abendmahl ausgeschlossen. In ihrem Buch "Saving Paradise" zitieren Rita N. Brock und Rebecca A. Parker einen Kodex aus dem 5. Jahrhundert, wonach solche Menschen erst nach einer entsprechenden Buße, die sieben Jahre dauerte, wieder am Abendmahl teilnehmen durften. Diese Buße konnte man jedoch nur einmal im Leben ablegen, weshalb sich viele römische Soldaten erst am Ende ihrer militärischen Laufbahn taufen ließen.

Das Tötungsverbot selbst ist natürlich nicht speziell christlich, der Dekalog ist ja bereits jüdisch, und  auch praktisch alle anderen Religionen ächten das Töten. Das Besondere an der christlichen Ethik ist vielmehr der Versuch, sich jeder Relativierung zu verweigern, also jeder Abwägung von Umständen, unter denen das Töten eventuell doch erlaubt oder zumindest gerechtfertigt sein könnte. Jesusworte wie "Wenn dir einer auf die linke Wange schlägt, dann halte ihm auch die rechte hin" oder "Liebe deine Feinde" machen es deutlich: Nicht einmal Notwehr, nicht einmal ungerechte Verhältnisse rechtfertigen eine Ausnahme.

Das Gebot "Du sollst nicht töten" gilt absolut. Das ist der Grund, warum bis heute christliche Positionen am Tötungsverbot auch dann festhalten, wenn "der gesunde Menschenverstand" aufgrund vernunftgeleiteter Abwägungen eigentlich zu einem anderen Ergebnis kommt, wie etwa im Fall von Notwehr, Sterbehilfe, Suizid – oder eben Abtreibung.

Doch was eine kohärente Position wäre, wenn man sie auf der Ebene einer speziell christlichen Ethik beließe, wird schräg und gefährlich, wenn sie in Realpolitik implementiert werden soll. Genau damit hat die Kirche leider begonnen, sobald sie die Morgenluft der Macht schnuppern durfte. Unter Missachtung des ebenfalls zentralen Jesuswortes "Mein Reich ist nicht von dieser Welt" versuchen kirchliche Machthaber seit Jahrhunderten, ihre ethischen Prinzipien mit Hilfe von Staat und Polizei gleichwohl in "dieser Welt" durchzusetzen und sie anderen, auch Nicht-Christen, mit Gewalt aufzuzwingen.

Gerade in Bezug auf das Thema Abtreibung machten sich die Kirchen damit zum Komplizen frauenfeindlicher Strukturen. Denn es ist ein Merkmal sämtlicher patriarchaler Gesellschaften, dass sie Abtreibung unter Strafe stellen. Dahinter steht aber dann keineswegs eine radikale ethische Sorge um alles Lebendige, sondern der Wunsch, die weibliche Fruchtbarkeit zu kontrollieren. Staatliche Abtreibungsverbote stehen eindeutig in politischen Kontexten, in denen Frauen entrechtet und unterdrückt werden, überall auf der Welt. Und im Namen des Christentums werden bis heute schwangere Frauen dem Tod ausgeliefert, weil man ihnen selbst nach Vergewaltigungen und bei Lebensgefahr eine Abtreibung verweigert. Im Namen des Christentums werden Frauen nach Fehlgeburten für Jahrzehnte als Mörderinnen ins Gefängnis gesperrt, wie derzeit mindestens 24 Frauen in El Salvador. Alle Länder, in denen absolute Abtreibungsverbote gelten, sind christlich geprägt.

Solche Auswüchse sind zwar extrem und sicher nicht das, was die Befürworterinnen von Paragrafen wie 218 und 219 in Deutschland intendieren. Aber sie sind keineswegs Unfälle, sondern ganz folgerichtige Konsequenzen aus dem Versuch, ein so radikales ethisches Gebot wie "Du sollst nicht töten" einem staatlichen Apparat zur Durchsetzung anzuvertrauen.

Gerade gegenüber den Frauen hat das Christentum historisch eine so große Schuld auf sich geladen, dass es sich schon allein aus diesem Grund mit moralischen Urteilen zur Tagespolitik zurückhalten müsste. Zumal in den antifeministischen Positionen der Kirche zur Abtreibung auch ein tiefes Missverständnis darüber deutlich wird, worum es Frauen, die für eine Streichung dieser Paragrafen eintreten, eigentlich geht. Es geht ihnen nämlich nicht, wie oft gesagt wird, um ein "Recht" auf Abtreibung. Abtreibung ist, wie die Philosophin Luisa Muraro es formulierte, kein "Recht". Aber Abtreibung ist zuweilen eine Notwendigkeit. Eine schwangere Frau kann vor der Notwendigkeit stehen, abzutreiben, weil es ihr – oft weniger aus persönlichen als vielmehr aus sozialen Gründen, die sie selbst gar nicht zu verantworten hat – nicht möglich ist, verantwortungsvoll ein Kind auszutragen und zur Welt zu bringen.

Beim Streit um die Paragrafen 218 und 219 geht es nicht darum, ob Frauen "abtreiben dürfen". Sondern es geht um die Frage, wer darüber entscheidet, wer ihr Richter ist. Es geht darum, ob andere über den Körper schwangerer Personen entscheiden und diese Entscheidung mit Hilfe von Justiz und Polizei durchsetzen können. Oder ob auch Schwangeren das Menschenrecht auf körperliche Selbstbestimmung zusteht und darüber, eigene ethische Urteile zu fällen und gegebenenfalls vor Gott zu verantworten.

Die Klarheit und Radikalität des christlichen Tötungsverbots lässt sich nur ernst nehmen, wenn die Kirche darauf verzichtet, es mit Hilfe staatlicher Gewalt durchzusetzen. Die Klarheit und Schnörkellosigkeit des Satzes "Du sollst nicht töten" zu bewahren und gleichzeitig dafür einzutreten, dass die "weltliche" Entscheidung über eine mögliche Abtreibung bei den Schwangeren selbst liegt ist deshalb kein Widerspruch, ganz im Gegenteil: Das eine ist ohne das andere nicht zu haben.