Oft geht es schon im November los - und zwar jedes Jahr: Menschen kommen zu Psychologin Yvonne Keßel in die Praxis und gestehen ihr, dass sie nicht wissen, wie sie Weihnachten verbringen sollen. Weil sie niemanden haben, der das Fest mit ihnen feiert. "Der Gedanke an Weihnachten erinnert viele meiner Klienten an ihre Verluste. Wenn sie etwa ihren Partner verloren haben, denken sie in dieser Zeit besonders intensiv darüber nach", sagt die Psychologin, die in Frankfurt am Main eine auf Senioren spezialisierte Praxis betreibt.
Es ist ein Problem, das sich meist im Verborgenen abspielt und doch eine große Zahl von Menschen betrifft: Viele müssen Weihnachten allein verbringen, obwohl es als das Familienfest schlechthin gilt. Genau diese Tradition erzeuge bei vielen Betroffenen Druck, weiß Keßel. "Es gibt diese Idee, dass man Weihnachten nicht alleine sein darf. Man hat von Menschen umgeben zu sein, die einem wichtig sind", sagt sie. Doch woher kommt eigentlich dieses Gefühl, dass man Weihnachten mit anderen Menschen verbringen muss?
Alleinstehende wissen oft nicht, wie sie das "Fest der Familie" verbringen sollen
"In der Forschung ist man sich ziemlich einig, dass Weihnachten wie wir es heute kennen, in der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden ist", sagt die Tübinger Kulturwissenschaftlerin Monique Scheer. In den Jahrhunderten zuvor habe es sich dabei um ein Fest des ganzen Dorfes gehandelt, das begangen worden sei wie heute Silvester oder Karneval.
"Der Baum ist in Wohnzimmer versetzt worden zusammen mit dem Aufkommen der Idee der bürgerlichen Kleinfamilie", sagt Scheer. Dies hänge wiederum mit der industriellen Revolution zusammen, in deren Folge die Menschen plötzlich von ihrem Wohnort getrennt arbeiten mussten. "Erst jetzt entwickelte sich das Zuhause zu einem Rückzugsort: Hier schaltete man ab. Weihnachten ist nun zu sehen als das zentrale Hochfest dieser Art des Lebens. Es zelebriert die Idee der Familie als Rückzugsort."
Das Problem an diesem Rückzugsort ist nur: Wer ihn nicht hat, ist quasi vom Fest ausgeschlossen. "In der klassischen bürgerlichen Weihnachtsideologie ist Alleinsein nicht vorgesehen und sicher auch stigmatisiert", sagt Scheer. Keßel kann nachfühlen, dass es vielen Alleinstehenden in diesen Tagen nicht gutgeht: "Die Leute haben ein klares Bild vor Augen: 'Früher habe ich Weihnachten mit meinem Partner oder den Kindern verbracht - und so hat das zu sein'. Es gibt aber selten den Gedanken, wie Weihnachten statt dessen sein könnte."
Genau daran arbeitet die Psychologin mit ihren Klienten. Denn das Problem seien ja nicht die fehlenden Angebote. Es gebe an Weihnachten viele Konzerte, ebenso in vielen Städten Gemeinschafts-Weihnachtsfeiern für einsame Menschen. Aber all das werde oft gar nicht wahrgenommen. "Deswegen ist es wichtig, gemeinsam mit den Leuten eine Perspektive zu entwickeln, ihnen klarzumachen: Weihnachten geht auch anders." Manchen reiche schon diese Anregung, andere bräuchten konkrete Vorschläge, was sie unternehmen könnten - welche genau, das sei aber individuell verschieden.
Dass Menschen zu Weihnachten das traute Heim verlassen, passt ohnehin zum Zeitgeist, findet Kulturwissenschaftlerin Scheer. "Viele Menschen sagen heute ja ganz bewusst: 'Weihnachten ist mir zu viel Familienterror' - und fahren dann beispielsweise in Urlaub." Die Gesellschaft sei vielfältig geworden und sehr individuell: "Die Menschen feiern Weihnachten zunehmend, wie sie Lust haben."