Die Zeichnung zeigt Maria mit ihrem Kind eng aneinandergeschmiegt, eingehüllt von einem weiten Tuch. Kurt Reuber (1906-1944), evangelischer Pfarrer und Arzt aus Nordhessen, zeichnete Weihnachten 1942 im Kessel von Stalingrad für seine Kameraden die "Madonna mit Kind" als spirituellen Gegenpol zum Sterben in Schützengräben, Bunkern und Ruinen. Das Original hängt seit August 1983 in der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche - und wurde zum Symbol für Frieden und Verständigung.
Aus dem Bild sprechen "Ruhe und die Erfahrung letzter Geborgenheit, die keine Macht der Welt anrühren und zerstören kann", so beschreibt es der Theologe Henry Holze. Der Berliner evangelische Altbischof Martin Kruse nannte das Kunstwerk "des begabten und früh vollendeten Christen" Reuber eine "anschaubare Predigt des Evangeliums".
Bei Temperaturen von bis zu minus 40 Grad ging es an der Wolga in Bunkern und Erdhöhlen 1942 ums nackte Überleben. Reuber, Oberarzt im Lazarett, notierte am 18. Dezember: "Alles leidet, Leib und Seele."
In Feuerpausen zeichnete er die Madonna auf die Rückseite einer Landkarte. Ein schwieriges Unterfangen, wie er später in einem Brief an seine Frau Martha Reuber-Iske schrieb: "Kein nötiger Abstand vom Bild möglich! Dazu musste ich auf mein Bretterlager oder auf den Schemel steigen und von oben auf das Bild schauen. Dauerndes Anstoßen, Hinfallen, Verschwinden der Stifte in den Lehmspalten. Für die große Madonnenzeichnung keine rechte Unterlage. Nur ein schräggestellter, selbstgezimmerter Tisch, um den man sich herumquetschen musste."
Seiner Frau beschreibt er auch den Moment, in dem er am Weihnachtstag den Kameraden das Bild zeigt: "Als ich nach altem Brauch die Weihnachtstür, die Lattentür unseres Bunkers, öffnete und die Kameraden eintraten, standen sie wie gebannt, andächtig und ergriffen schweigend vor dem Bild (?), unter dem auf einem in die Lehmwand eingerammten Holzscheit ein Licht brannte. (...) Gedankenvoll lasen sie die Worte: Licht, Leben, Liebe."
Die Madonna - ein "Moment des Trostes"
Doch die Besinnung währte nur kurz: Vier Granaten schlugen in unmittelbarer Nähe des Bunkers ein, wieder gab es einen Toten und mehrere Verletzte. Alltag des Kriegs: Mindestens 700.000 Menschen wurden in der Schlacht um das heutige Wolgograd getötet.
Das 105 mal 80 Zentimeter große Bild gelangte mit einem der letzten Flugzeuge heraus aus Stalingrad nach Deutschland, ein schwer verwundeter Bataillonskommandeur brachte es mit. Lange Jahre hing es im Wohnzimmer des Pfarrhauses im nordhessischen Wichmannshausen bei Eschwege, der Heimatgemeinde Reubers.
Für Reubers Biografen Erich Wiegand - ein Pfarrer im Ruhestand - war die "Madonna" ein Schlüsselerlebnis seiner Jugend. Sie bedeutete dem Konfirmanden, der zwei Brüder im Krieg verloren hatte, einen "Moment des Trostes", sagte er einmal einem Zeitungsreporter.
Mit Kunst gegen Nazipropaganda
Ihn faszinierte an Reuber dessen "Hinwendung zum Menschen". Mit seiner Kunst habe er sich auch gegen die Nazi-Propaganda gestellt, die die Russen als "Untermenschen" diffamierte. Reuber porträtierte in rund 150 Skizzen russische Kinder, Frauen und Männer, hinterließ ihre Namen. Er konnte, wie er selbst schrieb, die Augen nicht verschließen, "Elendsbild auf Elendsbild" nicht ausweichen.
"Die erste Voraussetzung einer wahren Befriedung der Welt liegt im Abstellen des Friedenswidrigen im allerpersönlichsten Leben", schrieb Reuber in einem Brief zu einem zweiten Marienbild. Es wurde später "Gefangenen-Madonna" genannt - seine letzte erhalten gebliebene Arbeit.
Reuber, geboren in Kassel, studierte Theologie in Bethel, Tübingen und Marburg. 1933 trat er eine Pfarrstelle in Wichmannshausen an. Parallel dazu studierte er Medizin in Göttingen, wurde 1938 promoviert und ein Jahr später als Truppenarzt einberufen. Den Kessel von Stalingrad überlebte der dreifache Vater. Aber er starb 1944 mit 38 Jahren im sowjetischen Kriegsgefangenenlager Jelabuga an Fleckfieber.
In der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche gehöre das Innehalten der Besucher vor Reubers Madonna heute noch zu den besonders eindrücklichen Momenten, erzählt Gedächtniskirchen-Pfarrer Martin Germer: "Für einige ist es mit Erinnerungen aus der eigenen Familie verbunden, die meisten aber berührt es einfach in seiner tiefen Menschlichkeit und als existenzielle Glaubensaussage."
Die Zeichnung bilde einen Zusammenhang mit drei weiteren Werken in der Gedächtniskirche, sagt er: Mit der gleich daneben angebrachten Tafel zum Gedenken an jene Menschen, die im Widerstand gegen den Nationalsozialismus ihr Leben eingesetzt haben, mit dem russischen Ikonenkreuz, 1988 als Friedenszeichen übergeben, sowie mit dem Nagelkreuz, Symbol der internationalen Versöhnungsgemeinschaft von Coventry. "Hier beten wir an jedem Freitag um Frieden und Versöhnung in der Welt."