Im Erdkundeunterricht lernen Kinder die Hauptstädte verschiedener Länder auswendig: Die deutsche Hauptstadt ist Berlin, die von Frankreich heißt Paris und die der USA ist Washington, D.C. So weit, so unkompliziert. Doch wie lautet der Name der israelischen Hauptstadt? Ist es Jerusalem oder doch Tel Aviv? Die Beantwortung dieser Frage ist so kontrovers, weil der rechtliche Status von Jerusalem unter Rechtsexperten, internationalen Organisationen und Regierungen hoch umstritten ist. In den vergangenen Tagen wurde darüber wieder kontrovers diskutiert, nachdem durchgesickert war, dass US-Präsident Donald Trump Jerusalem offenbar als israelische Hauptstadt anerkennen und das Außenministerium mit der Vorbereitung des Umzugs der US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem beauftragen wolle. Damit würde Trump eines seiner Wahlversprechen einlösen.
Hintergrund der Diskussionen um den Umzug der Botschaft ist ein Beschluss des US-Kongress' aus dem Jahr 1995: Israel solle - wie alle anderen Staaten auch - das Recht haben, seine Hauptstadt selbst zu bestimmen. Und das hat Israel bereits zwei Mal getan: 1950 und später mit dem sogenannten "Jerusalem-Gesetz" von 1980. Darin bekräftigte der Staat seine Ansicht, dass "das vollständige und vereinigte Jerusalem" die Hauptstadt Israels sei - einschließlich des völkerrechtswidrig besetzten Ostteils der Stadt. Diese faktische Annexion Ostjerusalems wurde jedoch vom UN-Sicherheitsrat für "null und nichtig" erklärt. Trotz des Kongress-Beschlusses und der klaren Position Israels in der Hauptstadtfrage befindet sich die US-Botschaft immer noch in Tel Aviv, da der amtierende US-Präsident alle sechs Monate ein Dekret unterzeichnet, in dem der Umzug der Botschaft verzögert wird. Bis jetzt.
Vor den Folgen dieser Entscheidung wurde in den vergangenen Tagen von allen Seiten - besonders von der arabischen Welt - gewarnt. Der Palästinenser-Präsident Mahmoud Abbas, der jordanische König Abdullah und der saudi-arabische König Salman brachten ihre Sorge um die Stabilität der Region und den Nahost-Friedensprozess zum Ausdruck, neue Gewaltwellen oder gar "Tage des Zorns" werden befürchtet. Und das fast auf den Tag genau (8. Dezember) 30 Jahre nach dem Beginn der ersten Intifada, die so vielen Menschen das Leben kostete.
Auch Papst Franzsikus betonte bei einer Generalaudienz im Vatikan, Jerusalem habe eine besondere Berufung zum Frieden und sei Juden, Christen und Muslimen gleichermaßen heilig. "Ich bete dafür, dass diese Identität zum Wohl des Heiligen Landes, des Nahen Ostens und der ganzen Welt bewahrt und bestärkt werde", sagte der Papst. Zugleich warnte er davor, in einer von grausamen Konflikten gezeichneten Welt für wachsende Spannungen zu sorgen. Dass es durch Trumps Vorhaben zu neuen Spannungen kommen werde, befürchtet auch der Repräsentant der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) im Heiligen Land, Wolfgang Schmidt.
Ab dem 6. Dezember wird mit Demonstrationen in Jerusalem, dem Westjordanland und dem Gaza-Streifen gerechnet, bei denen der Reisewarnung des Auswärtigen Amtes zufolge "gewalttätige Auseinandersetzungen nicht ausgeschlossen werden können". Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan drohte sogar mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Israel und bezeichnete Jerusalem als "rote Linie der Muslime".
Der Grund, warum in Jerusalem so viele politische und (ebenfalls nicht zu unterschätzen) religiöse Interessen aufeinandertreffen, liegt in der Geschichte der Stadt. Für alle drei großen Offenbarungsreligionen - Judentum, Christentum und Islam - ist Jerusalem eine heilige Stadt. Und alle Religionen erheben Anspruch auf ein "Stück ihrer Geschichte", auf ihre heiligen Stätten.
"Salomos Tempel"
Der heiligste Ort des Judentums ist der Tempelberg - die "Klagemauer" ist eigentlich nur ein Ersatz-Ort. Um das zu verstehen, muss man die Geschichte des Tempelbergs näher betrachten: Vor über 3.000 Jahren baute der Bibel zufolge König Salomon, Sohn König Davids, den ersten Tempel auf dem Berg Morija (2. Chr 3,1-2). Das soll, der Überlieferung zufolge, der Ort gewesen sein, von dem aus die Welt erschaffen wurde, an dem Abraham beinahe seinen Sohn Isaak als Brandopfer dargebracht hätte (1. Mose 22,2) und an dem Gott Salomons Vater, König David, erschienen ist. In diesem Tempel wurde der Überlieferung zufolge das Allerheiligste des Judentums aufbewahrt: Das Stiftszelt und die Bundeslade. Ein halbes Jahrtausend lang stand der Salomons Tempel, bis ihn die Babylonier unter Nebukadnezar II. im Jahre 586 v. Chr. zerstörrten (Jer 27). Die Bundeslade und die Tafeln mit den zehn Geboten verschwanden, und die Juden wurden des Landes vertrieben.
Nach ihrer Rückkehr aus dem babylonischen Exil wurde an der gleichen Stelle ein zweiter, schlichterer Tempel neu gebaut (Esra 6). Der wurde mehrere Male renoviert, bis König Herodes der Große den Tempel von Grund auf erneuern ließ - für dieses gigantische Bauprojekt war jedoch auf dem Hügel nicht genügend Platz und so ließ Herodes vier riesige Mauern um den Hügel herum bauen und ein großes, ebenes Felsenplateau aufschütten. Im Jahr 70 nach Christus rebellierten die Juden erfolglos gegen die römische Besatzungsmacht - die Römer besiegten die Rebellen, zerstörten den Tempel und verboten es den Juden, überhaupt in die Nähe des Tempels zurückzukehren. Die Westmauer des Plateaus war der nächstgelegene Ort zum Tempel, an dem die Juden sich aufhalten durften und so "adoptierten" sie den Bereich entlang der westlichen Stützmauer. Aus ihrer Sicht ergab das Sinn, da die Westmauer aufgrund ihrer größeren Nähe zum Tempel und damit zum Allerheilgsten sowieso heiliger als die anderen drei Mauerabschnitte gewesen sei. Dennoch ist auch heute noch der heiligste Ort des Judentums der Tempelberg selbst, besonders die Region, auf der heute der muslimische Felsendom steht.
Die "Klagemauer", die von den Juden selbst ha-kotel ha-ma'arawi (die westliche Mauer) oder umgangssprachlich nur Kotel (Mauer) genannt wird, ist also eben nicht eine der Tempelmauern, sondern eine der Stützmauern des Plateaus, auf dem die beiden Tempel gestanden haben. Dieser fast 60 Meter lange und 18 Meter hohe, freie Mauerabschnitt ist für Juden das Zeichen für den Bund Gottes mit dem Volk Israel und daher eine heilige Stätte mit dem Charakter einer "Freiluft-Synagoge".
In der Vorstellung des Judentums war das Tempel ein Ort, an dem Gott zu den Gläubigen kommt und wegen dieser Annahme etablierte sich das Ritual, kleine Zettelchen mit Gebeten oder Segenswünschen in die Ritzen der Mauer zu stecken. Regelmäßig werden alle Zettel aus den Ritzen entfernt und auf dem Ölberg vergraben.
Die Bedeutung Jerusalems für das jüdische Volk zeigt sich auch daran, dass Synagogen in aller Welt in Richtung Jerusalem ausgerichtet sind und an allen Werktagen beten strenggläubige Juden den Psalm 137: "Vergesse ich dein, Jerusalem, so werde meine Rechte vergessen." (Ps 137,5)
Der Ort Jesu Wirkens
Auch der Christenheit gilt Jerusalem aus zwei Gründen als heilige Stadt: Zum einem sehen sie sich durch ihren "neuen Bund" mit Gott in der Nachfolge der Juden und zum anderen lebte und wirkte Jesus in dieser Stadt. Im Neuen Testament sind zum Beispiel seine Besuche im jüdischen Tempel dokumentiert: Wie er als zwölfjähriger Junge nach dem Passa-Fest heimlich dort bleibt (Lk 2,46), wie er später die Geldwechsel aus den heiligen Hallen verjagt (Mt 21,12) oder wie er dort das letzte Abendmahl abhält (Lk 22). Insgesamt wird Jerusalem über hundert Mal im Neuen Testament erwähnt.
Besondere Bedeutung hat Jerusalem für Christen weltweit jedoch, weil in dieser Stadt Pontius Pilatus Jesus von Nazareth zum Tode verurteilt und hat kreuzigen lassen. Die Grabeskirche in der Jerusalemer Altstadt gilt vielen Christen als "Golgota" - also jener Hügel, auf dem die Kreuzigung stattgefunden haben soll (Lk 23,33). Außerdem gilt der Ort als jene Stätte, in der sich das Grab Jesu befand, bevor er am dritten Tage von den Toten auferstand. Des Weiteren befindet sich auch eine Höhle, in der Helena, die Mutter des römischen Kaisers Konstantin, das Kreuz Jesu gefunden haben soll.
Sechs christliche Konfessionen teilen sich die Grabeskirche. Die Hauptverwaltung haben die griechisch-orthodoxe, die römisch-katholische und die armenisch-apostolische Kirche inne. Im 19. Jahrhundert kamen die syrisch-orthodoxe und die äthiopisch-orthodoxe Kirche, sowie die Kopten hinzu. Die Protestanten besitzen mit der Erlöserkirche eine eigene Kirche in Jerusalem.
Mohammeds Ritt in den Himmel
Mit den beiden muslimischen Sakralbauten - dem Felsendom und der Al-Aksa-Moschee - befindet sich die drittwichtigste Stätte des Islam in Jerusalem. Muslime nennen das, was für die Juden und Christen der Temeplberg ist, auch Al Haram al-Scharif ("edles Heiligtum") und sehen es als eine heilige Einheit. Der Tempelberg wird auch nicht von den Israelis verwaltet, sondern steht unter muslimischer Hoheit. Das liegt auch daran, dass viele religiöse Juden sich weigern, den Tempelberg zu betreten - einerseits wegen der dortigen göttlichen Präsenz, andererseits ist die Angst zu groß, dass sie aus Versehen und aus Unwissenheit das ehemalige Allerheiligste betreten, zu dem das normale Volk keinen Zugang haben durfte. Bis heute ist es nur Muslimen gestattet, auf dem Tempelberg zu beten, auch wenn Nichtmuslime das Plateau als Touristen besuchen dürfen.
Nach der islamischen Überlieferung soll Mohammed von dem Ort, an dem seit Ende des 7. Jahrhunderts der Felsendom steht, von einem Felsen aus auf seinem Himmelspferd Buraq seinen Aufstieg in den Himmel angetreten haben und den frühen Propheten des Judentums und Jesus begegnet sein. Mohammeds Himmelfahrt ist ein wichtiger Bestandteil des islamischen Glaubens.
Im inneren des Felsendoms, der keine Moschee, sondern ein Schrein ist, kann der nackte Stein des Berges noch heute besichtigt werden. Gläubige Muslime erkennen auf der Oberfläche des Felsens den Fußabdruck des Propheten. Außerdem sollen dort Barthaare des Propheten Mohammed in einem kleinen Schrein aufbewahrt werden. Unter Forschern ist es umstritten, in welchen Verhältnis dieser Felsen zu den vorherigen Tempelbauten steht. Manche Archäologen vermuten, dass sich an dieser Stelle das Allerheiligste oder der Brandopferaltar des antiken jüdischen Tempels befand.
Die eher unauffällige Al-Aksa-Moschee gleich neben dem Felsendom gilt im Islam als drittheiligste Moschee - direkt nach der Al-Haram-Moschee in Mekka und der Prophetenmoschee mit dem Grab Mohammeds in Medina. Die Bedeutung der Stadt Jerusalem für die Muslime wird auch dadurch unterstrichen, dass in der Anfangszeit eben nicht in Richtung Mekka, sondern in Richtung Jerusalem gebetet wurde. Erst nachdem sich Mohammed mit den jüdischen Stämmen Medinas zerstritten hatte, änderte er die Gebetsrichtung zur Kaba nach Mekka.