Am heutigen bundesweiten Vorlesetag ruht das Team des reisenden Vorlese-Sofas sich aus. Vielleicht blättert der eine oder andere beglückt in der nunmehr zweiten Sammlung zweisprachiger Lieblings-Geschichten von Bremer Bürger*innen aus aller Welt. Wer dem feuerroten Erzählmobil im Oktober auf seiner zweiten Tour kreuz und quer durch Deutschlands kleinstes Bundesland Bremen gefolgt ist, konnte in elf Tagen fast einmal rund um die Welt reisen: mit Fabeln aus Schottland, Deutschland, Tibet, Eritrea, Madagaskar, Somalia, Russland, Italien, Afghanistan, dem Iran und Indien. Elf Bremer Bürger*innen aus diesen Ländern haben, jeweils gemeinsam mit einem Freund oder Nachbarn, ihre Lieblingsgeschichten zweisprachig vorgelesen. Nicht Bildung, wie am heutigen Tag vielfach als Zweck des Vorlesens gepriesen, sondern Begegnung zwischen unterschiedlichen Bewohnern Bremens anzustiften, ist das Ziel dieses ambulanten Projekts.
Zum Beispiel im bunten und wildesten Quartier der Hansestadt, dem "Viertel": Auf einem von herbstlich-bunten Blättern bedeckten Gehweg vor einer Senioren-Beratungsstelle sitzen reserviert dreinblickende ältere Bremer*innen und unsichere junge Geflüchtete Seite an Seite auf Holzstühlen. Das rote Designer-Sofa leuchtet in der goldenen Oktobersonne vor der Geschäftsstelle der "Ambulanten Versorgungsbrücken". Noch stärker leuchtet das Lächeln des 17-jährigen somalischen Vorlesers Ahmed Ali Ismail, der eine Geschichte über ein Wettrennen zwischen Hase und Schildkröte liest, neben ihm eine Mitarbeiterin mit der deutschen Fassung.
Seine Großmutter hatte Ahmed als kleinem Jungen die Fabel zuhause unterm Schattenbaum wieder und wieder erzählt. Anders als in der Grimmschen Märchensammlung stirbt der somalische Hase zwar nicht im Wettlauf. Aber auch er ist so siegesgewiss, dass er kurz vor der Ziellinie eine Rast einlegt... Eingeschlafen, Pech gehabt! So wird die moralische Botschaft "Hochmut kommt vor den Fall" Kindern in der ostafrikanischen Märchenwelt vermittelt.
Ahmeds reale Welt hat aktuell tiefe Risse: seine Familie war nicht einverstanden mit der Flucht nach Deutschland; die Reise gefährlicher als seine Seele aushielt; die neue Heimat Bremen ist oft kalt und windig, das Ankommen schwieriger als er dachte. Doch nun sitzt der schmale junge Mann mit strahlenden Augen auf dem von Blättern umtanzten Sofa, weil ein Dutzend Bremer*innen seine Lieblingsgeschichte hören möchte. Später, beim gemeinsamen Betrachten der sechs Quadratmeter großen Weltkarte auf dem Boden, die von Vorleseort zu Vorleseort mitreist, fragt ein älteres Ehepaar Ahmed nach seinem Alltag zuhause in Somalia – und behutsam auch nach seinem Fluchtweg. Ein geflüchteter Jugendlicher erlebt Wertschätzung. Auch bei den Senioren im Viertel könnte das unterhaltsame reisende Vorlese-Sofa etwas angestoßen haben: dass Fremdenangst und Vorurteile durch Begegnung überschrieben wurden.
Impulse für das Zusammenleben
Das ambulante Vorlese-Projekt setzt Impulse für das Zusammenleben in Bremer Stadtteilen: Das emotionale Gemeinschaftserlebnis in der geborgenen Vorlese-Situation ist das Grundrezept des 2016 von der "Bundeszentrale für politische Bildung" und dem "Bundesministerium für Kultur und Medien" preisgekrönten sozialpolitischen Projekts. Das reisende Vorlesesofa gab im Herbst 2017 zum zweiten Mal Bremer Einwanderern verschiedener Generationen und Motivationen ein Gesicht und eine Stimme: dem Italiener, der vom in den 60er Jahren eingewanderten Vater Bremens ältestes noch selbst produzierendes Eiscafé übernommen hat; der äthiopischen Designstudentin, die vor vier Jahren an die Hochschule für Künste kam und der Liebe wegen blieb; der indischen Personalexpertin, die für ein Jahr bei "Bremen Overseas Development und Research" (BORDA) arbeitet. Die Firma bahnt Zugang zu Wasser und sanitären Anlagen weltweit und hat dafür ein dezentrales Abwasserreinigungssystem entwickelt. Ganz nebenbei verhalf Deepika Anil den deutschen Cricketdamen zur Europameisterschaft.
Dass "Das Reisende Vorlese-Sofa" überraschend und unterhaltsam daherkommt, sorgt für die Wirksamkeit des integrativen Projektes – das zeigt sich auch im zweiten Jahr an vielen Stationen: ob zwischen benachbarter Eisdiele und Buchladen die Samstagseinkäufer italienisch-deutsch zum Lachen gebracht werden; ob die Sonntagsspaziergänger im Botanika-Park vor der Europäischen Friedens-Buddha-Statue mit einer tibetisch-deutschen Fabel über vier solidarische Tiere - nein, nicht die Bremer Stadtmusikanten! - zum Verweilen eingeladen werden; oder ob am Sonntagmorgen auf der Bezirkssportanlage Findorff junge afghanische und pakistanische Cricket-Spieler die deutsche Fußballjugend und deren Eltern mit ihrer Lieblingsgeschichte in Dari-Deutsch verblüffen.
Bindungen schaffen zwischen fremdelnden Nachbarn
Ob eingeboren oder eingewandert: Für einen kurzen Moment schafft das gemeinsame Vorlesen und Zuhören einen gemeinsamen Wohlfühlort für einander fremde Menschen aus unterschiedlichsten Kulturen, wird ein Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit gestiftet. Die aktuelle Vorlese-Studie der "Stiftung Lesen" betont die Wichtigkeit dieses bindungsstiftenden Rituals zwischen Babies und Eltern. Warum nicht auch zwischen fremdelnden Nachbarn?
Station sieben der elftägigen Vorlese-Sofa-Tournee: Mitten in der geschäftigen Shoppingmall "Berliner Freiheit" im multikulturellen Bremer Außenbezirk "Neue Vahr" ist eine temporäre Vorlese-Oase entstanden. Eine internationale Publikumsgruppe lauscht einträchtig-versunken während der russischstämmige Sascha Alexander Steding und seine Freundin die Erzählung von der stolzen "Blume, blaue Blume" vortragen. Zwischen Sofa und Weltkarte hocken Kinder aus Nigeria, Syrien und Griechenland auf einem grasgrünen Teppich und Sitzkissen. Zwei erschöpft wirkende junge Mütter aus Russland wiegen Kleinkinder auf ihrem Schoß - und freuen sich sichtlich, dass ihnen jetzt mal jemand vorliest. Die aus Lautsprechern lärmenden Marketingspots und hastig vorbeiratternden Einkaufswagen scheint keiner zu hören.
Impulse zum Perspektivwechsel
Zwei Zuhörer, die sich um das rote Vorlese-Sofa scharen, sind extra ins quirlige Einkaufszentrum Neue Vahr gekommen. Sie sind Freunde des russischstämmigen Vorlese-Paares. Die meisten Zuhörer sind spontan hinzugekommene Passanten – angelockt durch das mit www.liesmirvor.net-Schriftzug durchs Stadtviertel geradelte rote Sofa, durch den anmutigen Klang einer fremden Sprache an ungewöhnlichem Ort oder die von Süd nach Nord beschriftete Weltkarte von "Bildung trifft Entwicklung / Lernen Global". Auch sie gibt Impulse zum Perspektivwechsel, zum Umdenken. "Hä, das ist ja anders rum als auf meinem Globus!" Ein syrischer Junge kratzt sich am Kopf, schaut fragend zu seinem Vater auf. Ein kenianisches Mädchen entdeckt, dass "Afrika ja viel größer ist als in meinem Atlas." "Diese Karte hat ein Bremer Geograph gezeichnet, er hieß Arno Peters" erklärt ein älterer Mann den beiden Kindern mit so viel Stolz in der Stimme, als habe er persönlich mit seinem Zeichenstift den bis dahin eurozentristischen Blick der Menschen auf die Welt korrigiert. 1974 korrigierte der Kartograph Peters die bis dahin weltweit gebräuchliche, infolge der Erdkrümmung verzerrte Abbildung der Welt und stellte die realen Größenverhältnisse der Länder dar.
Warum lesen wir einander vor? Dieses beglückende gemeinschaftsstiftende Ritual verbindet die Menschen weltumspannend. Man will seine Freunde oder Kinder sicher und geborgen in die Nacht schicken, will Ratschläge für die eigene Lebensbewältigung vermitteln oder einfach jemanden zum Lachen bringen. Da gibt es viele Gemeinsamkeiten und kleine Unterschiede. Von den Gebrüdern Grimme wurde das Thema Solidarität im Märchen der Bremer Stadtmusikanten aufgezeichnet, die gemeinsam die Räuber in die Flucht schlugen und eine musizierende Senioren-WG gründeten. In Tibet gibt es die Erzählung von Elefant, Affe, Hase und Goldfasan: Die vier Tiere realisieren, dass sie nur gemeinsam einen Pfirsichbaum zum Früchtetragen bringen und dessen Früchte ernten können. Vor dem goldglänzenden Europäischen Friedensbuddha vorgetragen von einer nach Bremen geflüchteten Tibeterin und einer Bremerin aus dem Verein "Aktionsgruppe Tibet" war das eine der eindrucksvollsten Lesungen der Tour.
Wie können Menschen unterschiedlicher Herkunft gut zusammen leben? Das muss – auch in Bremen, einer wirtschaftlich armen Stadt mit überdurchschnittlich hohem Anteil von Einwanderern – immer wieder neu ausgehandelt werden. Geschichten aus aller Welt geben Anregungen, wie das Zusammenleben gelingen kann. Die diesjährige Vorlesesofa-Tournee vermittelte erneut, wie bereichernd Vielfalt in einer interkulturell geprägten Stadt sein kann. Eine der lustigsten und lehrreichsten Geschichten kam aus dem krisengeschüttelten Madagaskar: Eines Tages musste der König der Tiere die Schwänze unter allen Tiere verteilen. Natürlich gibt es dabei mächtig Streit. Doch der Löwe findet eine beinahe perfekte Lösung – und der Zufall kommt ihm ein klein wenig zu Hilfe. Gefunden, übersetzt und vorgetragen wurde diese Geschichte von Arthur Nambini Manantsoa, Musiker aus der Band "Raoky" und der Bremerin Imme Gerke, die mit ihrer "KulturenWerkstatt" crosskulturelles Zusammenleben lehrt. Die Kuriere von "Fahrradexpress" befördern jetzt die ersten Weihnachtspäckchen. Das macht zwar weniger Muskelkater als das Vorlese-Sofa kreuz und quer durch Bremen zu ziehen, aber auch weniger Sinn. Sie freuen sich schon aufs nächste Jahr.