An eine Klientin erinnert sich Renate Schwedes noch besonders gut: Eine ältere Dame, schon weit über 70, die ein vollkommen unauffälliges und stabiles Leben gelebt hatte. Aber als sie daran dachte, dass sie in nicht allzu ferner Zeit sterben würde, kam lange Verdrängtes in ihr hoch. "Sie kam zu mir, weil sie schlecht schlafen konnte. Sie sagte, sie träume jede Nacht vom Krieg", sagt Schwedes. Die Flucht aus Schlesien, die Vergewaltigung der Mutter, der Tod des Bruders, der Hunger - alles, was lange weit weg war, kam jetzt zurück. Jede Nacht.
"Das ist oft so. Im Alter kann die psychische Abwehr eines Menschen zusammenbrechen", sagt Schwedes. Sie ist Mitarbeiterin der psychologischen Paar- und Lebensberatungsstelle des Diakonischen Werkes im südbadischen Lörrach. Um ältere Menschen wie ihre Klientin passend betreuen und behandeln zu können, hat die Diakonie ein Pilotprojekt gestartet.
"Ein typischer Fall ist es etwa, wenn jemand als Pflegebedürftiger zu Hause leben will, die Angehörigen aber nicht in der Lage sind, das zu leisten"
Das Projekt trägt den Namen "Was ich im Herzen trage", ist zunächst auf drei Jahre befristet und wendet sich ausdrücklich an Menschen ab 65 Jahren sowie ihre pflegenden Angehörigen. Sie können bei der Diakonie kostenfrei Beratung bekommen - allerdings beschränkt auf 20 Therapiestunden. Das klingt zunächst ganz simpel und ist doch etwas Besonderes - denn spezielle Therapieangebote für Menschen in dieser Altersklasse gibt es in Deutschland erstaunlich selten.
Dass Therapiemöglichkeiten für Ältere bundesweit fehlen, darüber herrscht unter Experten weitgehend Einigkeit. So hat die Bertelsmann Stiftung in der Studie "Psychotherapeuten. Bedarf, Nachfrage, Angebot - Maßnahmen für eine bedarfsgerechte Verteilung" in diesem Jahr ausgerechnet, dass bei Menschen über 65 die Nachfrage nach Therapieplätzen sieben Mal geringer ist als bei unter 65-Jährigen - bei nahezu gleicher Wahrscheinlichkeit, psychisch zu erkranken.
Dabei haben natürlich auch ältere und alte Menschen persönliche Probleme oder psychische Lebenskrisen. "Allerdings nicht öfter als Menschen in anderen Altersklassen", sagt Schwedes. Bei ihnen stünden andere Fragen im Mittelpunkt als bei Jüngeren: "Ein typischer Fall ist es etwa, wenn jemand als Pflegebedürftiger zu Hause leben will, die Angehörigen aber nicht in der Lage sind, das zu leisten."
Oder wenn ein frisch in Rente gegangener Mann urplötzlich auf die Idee kommt, den Haushalt mitführen zu wollen - und das mit seiner wenig begeisterten Frau nicht abgesprochen habe. Oft litten ihre Klienten auch unter dem näher rückenden Tod, sagt Schwedes. "Die Gespräche gehen häufig ins Philosophisch-Spirituelle."
Schwedes ist selbst 64 Jahre alt. Sie erinnert sich, wie wenig Wertschätzung früher den psychischen Problemen älterer Menschen entgegengebracht wurde: "Als ich angefangen habe, da hieß es noch häufig: Menschen ab 65 therapiert man nicht mehr."
Das habe sich inzwischen gewandelt, aber noch immer sei Therapie für Menschen in diesem Lebensabschnitt ein Tabuthema - und das, obwohl sehr wohl Bedarf vorhanden sei. "Als wir unser Projekt angekündigt haben, haben hier ständig interessierte Bürger angerufen."
Im aktuellen Altenbericht der Bundesregierung wird eine therapeutische Versorgung für Ältere mit Psychotherapie als unverzichtbar bezeichnet. Der in vielen Regionen nach wie vor gültige Standard, lediglich altersübergreifende, allgemeinpsychiatrische Dienste vorzuhalten, wird von Fachleuten gar als Altersdiskriminierung gewertet.
Schwedes kann den Versorgungsmangel bestätigen: In Lörrach gebe es nur einen einzigen Gerontopsychiater am kommunalen Krankenhaus - sonst niemanden. Und das in einer Stadt mit 50.000 Einwohnern.