Wie hat sich das Altersbild in den letzten Jahren verändert?
Jens-Peter Kruse: Die Menschen werden heute wesentlich älter. Das, was vor 30, 40 Jahren einen 70-Jährigen ausmachte, können wir heute an einem 80-Jährigen beobachten. Im Grunde sind uns in den letzten Dekaden gut zehn Jahre geschenkt worden. Wer heute in den Ruhestand geht, hat noch eine Zeit von 20 bis 25 Jahren vor sich. Damit ist eine ganz neue Lebensendphase entstanden, die wir einerseits dem Alter zurechnen, die aber von den Menschen in diesem Alter selbst gar nicht als Alter wahrgenommen wird. Diese Gruppe rechnet sich nicht zu den "Alten" und fühlt sich von Angeboten für Seniorinnen und Senioren nicht angesprochen.
Die "Alten" sind also aktiver geworden. Wie muss die Kirche darauf reagieren?
Kruse: In Zukunft wird es auch darauf ankommen die Gruppe zwischen 60 und 75 gezielt anzusprechen. Sie ist eine Gruppe deren Bereitschaft sich zu engagieren sehr hoch ist, das zeigen eine Vielzahl von Untersuchungen. Zugleich ist es auch eine Gruppe, die nicht einfach zur Kirche kommt. Die Vorstellung "mit dem Alter kommt der Psalter", also dass die Alten automatisch zur Kirche kommen, gilt heute nicht mehr. Aber sie kommen, sie lassen sich ansprechen, wenn sie eine für sie sinnvolle, wichtige Aufgabe wahrnehmen können.
"Die Aufgabe ist das Entscheidende"
Das heißt man kann sie anders einbinden in die Gemeindearbeit?
Kruse: Das Wort "einbinden" ist problematisch, denn es geht hier auch um eine Gruppe, die kritischer geworden ist, die über eine höhere Bildung verfügt, sich nützlich machen will. Aber deswegen lässt sie sich nicht unbedingt in kirchliche Strukturen einbinden. Die Aufgabe ist das Entscheidende. Das haben wir bei der Flüchtlingsarbeit gesehen. Wenn Sie da genau hinschauen, sehen Sie, da war genau diese Altersgruppe aktiv. Wir sehen das bei den Tafeln, bei Projekten für junge Menschen. Den jungen Alten ist wichtig, dass sie mit dem was man tut auch gebraucht werden. Sie möchten sich aber nicht gebrauchen lassen. Sie möchten auch nicht die nicht mehr finanzierbare Küsterarbeit übernehmen, gewissermaßen als Ausfallbürge.
Die Menschen können also mehr leisten. Das gilt aber nicht für alle "Alten"?
Kruse: Das Problem, was wir häufig übersehen ist, es gibt nicht "das" Alter. Da das Alter inzwischen die längste Lebensphase ist, von 60 bis zum Teil 100 Jahre, hat sich diese Zeitspanne ausdifferenziert. Wir haben das autonome Alter, das ist das was wir eben angesprochen haben. Das sind die Jüngeren, zwischen 60 und 75. Weil die Baby Boomer jetzt ins Rentenalter kommen, wird es in Zukunft darum gehen, sich gezielt auch dieser Gruppe zuzuwenden, sie mitzunehmen und anzusprechen.
Dann haben wir das fragile Alter, in dem Menschen noch selbstständig leben können, aber nicht mehr die Kraft haben, sich darüber hinaus groß zu engagieren. Und dann haben wir das pflegebedürftige Alter, was man nicht ausblenden darf. Und die Kirchen haben die Aufgabe, diese drei verschiedenen Gruppen der Alten, die wir alle unter dem einen Begriff Alter zusammenfassen, jeweils gezielt in den Blick zu nehmen.
Die klassische Altenarbeit, die ja eher auf Betreuung herausläuft, tritt also in den Hintergrund?
Kruse: Mit der klassischen Altenarbeit erreichen wir nur noch eine Teilgruppe. Und wir als Kirche müssen uns Gedanken machen, wie wir die Seniorenarbeit attraktiv machen für Menschen, die mobil sind, die vielleicht auch mit ihrem Tun etwas erreichen wollen. Da gibt es auch ein paar sehr gute Beispiele aus der gesamten Republik. Wir brauchen innovative Projekte für die jungen Alten und liebevolle Angebot für Menschen im fragilen Alter.
"Die Aktiven wollen etwas tun gegen die Wegwerfgesellschaft, man kann es auch anders ausdrücken: Sie wollen zum Erhalt der Schöpfung beitragen."
Können Sie einige konkrete Projekte nennen?
Kruse: Es gibt Großeltern-Dienste und im sozialen Bereich. Das heißt, dass Seniorinnen und Senioren Verantwortung übernehmen, zum Beispiel für die Kinder von Alleinerziehenden, wo die Aktiven die Rolle der Großeltern übernehmen, da diese zum Teil nicht vorhanden sind oder ganz woanders wohnen. Und dieses über eine längere Zeit.
Zu nennen wäre auch die Gruppe "edelMut". In Burgdorf bei Hannover, an anderen Orten gibt es ähnliche Projekte. Das ist eine Gruppe von etwa 60 Leuten, die haben einen Verein gegründet, der Kirchenkreis hat das unterstützt. Diese Gruppe sammelt wertvolle getragene Sachen und verkauft sie, sozusagen ein hochwertiger Second-Hand-Laden. Die Einnahmen fließen in soziale Projekte im Kirchenkreis. Die haben in einem Jahr einen Reinerlös von 100.000 Euro erzielt. Das sind 60 Leute die im Schichtbetrieb dafür sorgen, dass dieser Laden von 9 bis 18 Uhr jeden Tag geöffnet hat, am Sonnabend bis Mittag. Da kann man hingehen, sich was aussuchen, fair gehandelte Ware kaufen, Kaffee trinken, also das ist nicht nur ein Verkaufsgeschäft, sondern ein Ort des Austauschs. Die Aktiven wollen etwas tun gegen die Wegwerfgesellschaft, man kann es auch anders ausdrücken: Sie wollen zum Erhalt der Schöpfung beitragen und gleichzeitig soziale Projekte finanzieren.
Im letzten Jahr hat die hannoversche Landeskirche einen Förderpreis für innovative Seniorenprojekte verliehen. Wir waren überrascht an wie vielen Stellen es solche Aufbrüche gibt. Das geht von ganz kleinen Geschichten wie Computergruppen, die älteren Menschen beibringen, wie sie mit ihren Enkeln in Australien skypen können. Damit fängt es an und das geht mancherorts so weit, dass man sich in der Nachbarschaftsarbeit und der Quartiers- und Dorfentwicklung engagiert.
"Wenn die Kirche wachsen will, dann nur mit den Alten."
Worauf müssen Gemeinden achten, die sich auf diesen Strukturwandel einstellen?
Kruse: Es ist wichtig, dass ein solches Projekt ins gesamte Gemeindekonzept passt. Man kann keine solche gemeinwesenorientierte Seniorenarbeit nur machen, wenn die gesamte Gemeinde sich nicht als Teil im Sozialraum versteht und ihre Aufgabe nicht darauf beschränkt, die „Getreuen“ zu versorgen, sondern die Kirchengemeinde als Kirche mit und für andere entwickelt. Das ist eigentlich eine Frage an die gesamte Kirchengemeinde, nicht nur an eine einzelne Altersgruppe.
Der "Altenarbeit", die ja eigentlich gar keine klassische Altenarbeit mehr ist, kommt heute also eine größere Bedeutung zu?
Kruse: Die Gemeinde, die sich diese Arbeitsform zu Eigen macht, gewinnt dadurch andere Kontaktflächen und kommt mit Menschen zusammen, die normalerweise nie die Gemeinde aufsuchen würden. Damit eröffnen sich neue Möglichkeiten. Evangelische Altenarbeit ist heute eine Chance für eine Gemeindeentwicklung. Bisher hat man sich dabei vor allem auf junge Familien konzentriert. Dass die Alten ein Potential für die Gemeinden sein können, ist bisher weniger im Blick gewesen. Und dies, obwohl die Alten zurzeit die einige Gruppe in der Gesellschaft sind, die ständig wächst. Wenn die Kirche wachsen will, dann nur mit den Alten.