Die Seite eins, gefüllt mit einem religiösen Thema: Ist die Siegener Zeitung die einzige Zeitung in Deutschland, die das so macht?
Dieter Sobotka: Ich wüsste zumindest keine, und ich bekomme ja einige Zeitungen auf den Tisch. Ich habe auch früher als Mitarbeiter beim Institut für Publizistik an der Universität Münster keine Zeitung gefunden, die so etwas machte.
Ist das, was Sie auf der Aufmacherseite veröffentlichen, eine Predigt, oder ist es ein besinnliches Wort, oder etwas anderes?
Sobotka: Es ist eigentlich kein Predigttext, eher ein besinnliches Wort zu den jeweiligen Feiertagen. Aber es kommt auch immer auf den an, der es schreibt. Für die Seite eins haben wir uns für den seinerzeitigen Vorsitzenden des Theologischen Ausschusses im Kirchenkreis entschieden. Ich hätte auch den Superintendenten fragen können oder den Pfarrer der Siegener Nikolaikirche. Aber jetzt sind wir ein Team, das hat sich bewährt, und ich habe keinen Grund, daran etwas zu ändern.
Weihnachten, Ostern und Pfingsten erscheint die Seite eins mit religiösem Inhalt. Und die anderen Feiertage?
Sobotka: Wir versuchen das über Sonderseiten im Kulturteil aufzufangen. Zu Himmelfahrt oder Fronleichnam haben wir zumindest ein Bild oder einen Bildanlauf im Vorhinein auf der Eins.
"Wir wollen keine Kirchenzeitung machen"
Die Schere geht immer weiter auseinander: Die Welt wird immer weltlicher, und die Siegener Zeitung …?
Sobotka: Wir wollen keine Kirchenzeitung machen. Wir haben auch genug Leser, die uns sagen: Im Grunde ist Religion Privatsache. Auch damit müssen wir ja umgehen. Wir gehen auch nicht zur Berichterstattung in die Gottesdienste, es sei denn, die Präses Kurschus predigt in ihrer Heimat Siegen, oder der neugewählte Limburger Bischof Bätzing hat seine ersten Predigt in seiner Heimatgemeinde Niederfischbach. Aber das sind dann herausragende Ereignisse…
… bei denen es auch mehr um die politische Seite der Predigt geht?
Sobotka: Im heutigen Bericht, den hat eine junge Redakteurin geschrieben, ging es um theologische Fragen, nicht um Politik. Wir wollen natürlich auch Gemeindeleben begleiten, aber dann, wenn etwas Besonderes passiert, bei der Einführung eines neuen Pfarrers, oder wenn einer die Gemeinde nach 25 Jahren verlässt. Aber das ist der Kern der Angelegenheit: Wir verstehen uns schon als eine christliche Zeitung, als Zeitung, deren Werte auf christlicher Kultur beruhen. Das ist so, das geht so bis in die Verlagsleitung hinein. Der Verleger trägt das mit, will das so, der Chefredakteur will das auch so. Und alle, die hier arbeiten, bekommen natürlich vom ersten Tag an mit, dass der christliche Glaube in unserer Region einen großen Stellenwert einnimmt, nach wie vor, auch wenn die Gesellschaft immer mehr verweltlicht, aber da gibt es auch Unterschiede zwischen unserer Region und den Großstädten. Wir haben, auch wenn die Zahl der Gemeindemitglieder sinkt, nach wie vor viele Menschen, die an religiösen Themen sehr interessiert sind.
"Die Botschaft, die wir in die christlichen Kirchen hineinsenden, ist jedenfalls, dass das, was sie beschäftigt, uns auch sehr wichtig ist"
Was sich dann so auswirkt, dass der Chefredakteur der Siegener Zeitung bei der Kreissynode des Kirchenkreises persönlich zur Berichterstattung erscheint?
Sobotka: Hat er lange gemacht. Das ist aber auch ein Zeichen der Wertschätzung, zu sagen: Ihr seid bedeutsam. Mir ist aber klar, dass auch die freiwillige Feuerwehr einen hohen Stellenwert hat. Als ich aus dem Ruhrgebiet kam, wo es hauptsächlich die Berufsfeuerwehr gibt, da kannte ich das gar nicht. Da wurde mir auch klar, wie eng die Siegener Zeitung mit den religiösen wie mit den freiwilligen Strukturen in dieser Region verwoben ist. Diese Zeitung ist ja auch schon seit 200 Jahren hier. Da ist schon ein gewisses Geflecht draus geworden.
Hat sich die Siegener Zeitung in den ersten 180 Jahren nicht eher als evangelische denn als christliche Zeitung profiliert?
Sobotka: Das hat aber auch etwas damit zu tun, dass die Zahl der evangelischen Christen im Kreis Siegen-Wittgenstein höher ist als die der Katholiken. Natürlich war es so, dass gerade in der Nachkriegszeit unsere Konkurrenzzeitung, die Westfalenpost, in den katholischen Gebieten des Siegerlandes einen starken Stand hatte. Mir ist auch berichtet worden, dass katholische Geistliche damals gewarnt haben: "Abonniert bloß nicht die evangelische Zeitung". Das hat sich aber nun wirklich seit den sechziger Jahren geändert. Die Botschaft, die wir in die christlichen Kirchen hineinsenden, ist jedenfalls, dass das, was sie beschäftigt, uns auch sehr wichtig ist. Wenn ich mir unsere Olper Ausgabe ansehe, dann nimmt die katholische Kirche dort einen breiteren Raum ein, auch wenn die Berichterstattung dort in der letzten Zeit nicht immer nur positiv war. Kirche zu beleuchten oder wichtig zu nehmen, heißt aber nicht automatisch, dass man alles, was Kirche sagt, nur abnickt.
Es ist ja auch so, dass sich die Position der Pfarrer seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert verändert hat, oder?
Sobotka: Kirche ist ja vielleicht auch politischer geworden, erzeugt mehr Reibungspunkte. Das bereitet ja auch ab und zu Probleme. Auch führende Kirchenvertreter haben aber mittlerweile eingesehen, dass man nicht nur außerhalb dieser Welt religiös wirken kann. Aber je mehr man in diese Streitthemen eintaucht, desto angreifbarer wird man ja auch. Dem einen ist die Kirche zu politisch geworden, dem anderen ist sie nicht politisch genug.
Das können ja ganz heikle Themen sein, wenn man an den Missionsauftrag denkt, also an die Judenmission als jahrzehntelanges heißes Eisen, oder in neuzeitlicher Form die Mission der Muslime. Wenn man das transportiert, dann kann das ja auch für die Zeitung heikel werden?
Sobotka: Ich habe da keine Angst davor. Nochmal: Kirche oder Freikirchen begleiten, sie wichtig zu nehmen, heißt ja auch, sie kritisch zu begleiten. Wir machen uns da ja nicht nur Freunde. Wenn unsere Leser sagen: Wir wollen informiert sein - dann bieten wir ein Forum. Ich kann nicht sagen, dass das immer im Sinne derer ist, die die Zügel halten. Das ist aber auch nicht mein Job.
"Diese Predigt ist sicher kein Grund, die Zeitung abzubestellen"
Wie sind die Reaktionen auf die Festtags-Eins?
Sobotka: Es gibt immer welche, die uns danach schreiben.
Die Traditionsschreiber, die schon morgens mit dem Kuli neben der Zeitung sitzen?
Sobotka: Ich habe eigentlich noch keine Zuschrift bekommen, in der drinsteht "Lasst das sein!" Und auch die Autoren bekommen sowohl inhaltliche als auch formale Rückmeldungen. Diese Predigt oder geistliches Wort ist, glaube ich, in der Leserschaft gut verankert und sicher kein Grund, die Zeitung abzubestellen.
Die Festtagsausgaben sind vielleicht die Siegerländer Version der "Nur-Gute-Nachrichten-Zeitung". Nach dem Muster: "Wir verschonen euch heute von den schlechten Nachrichten dieser Zeit?
Sobotka: Dann könnte man ja eine andere gute Nachricht bringen. Nein – wir wollen keine schlechten Nachrichten verdrängen. Wir wollen gerade an den hohen Feiertagen einen Anreiz geben, darüber nachzudenken, woher dieser Feiertag kommt. Gerade in solchen Jahren wie mit dem Reformationsjubiläum meine ich, sollte man schon etwas intensiver in den Blick rücken, was Reformation eigentlich bedeutet. Im Herbst wollen wir im Gedanken der Ökumene den Dechanten und den Superintendenten zusammenführen und zu einem Gespräch in die Redaktion einladen.
"Das ist eine an den hier lebenden Menschen orientierte Grundhaltung"
Wenn man es zuspitzen will: Die Predigt auf der Eins ist unter dem Aspekt der Neulesergewinnung eigentlich eine völlig unjournalistische Vorgehensweise.
Sobotka: Das hängt aber nicht an der Gestaltung der Seite 1. An den wenigen Tagen im Jahr entscheidet sich nicht, ob man die Siegener Zeitung abonniert oder nicht. Und wenn ich mir Zeitungen ansehe, die die Seite eins mit Anzeigen belegen und den Leser erst zum Inhalt kommen lassen, wenn man das Kommerzielle abgewickelt hat, dann weiß ich nicht, ob wir da so falsch liegen. Ich sehe da keinen Gegensatz. Wir machen Zeitung in der Grundschule, Themenwochen, um junge Familien anzusprechen. Wir versuchen, Verlässlichkeit zu schaffen, Orientierung zu geben und das eben auch im religiösen Sinne. Das heißt aber nicht, dass wir eine Kirchenzeitung sind.
Das ist eine sehr konservative Grundhaltung, konservativ im eigentlichen Wortsinne.
Sobotka: … eine an den hier lebenden Menschen orientierte. Diese Zeitung ist ja auch hier entstanden, vor 200 Jahren. Sie kann sich nur an den Menschen orientieren, wenn sie das, was den Menschen wichtig ist, auch wichtig nimmt. Das Bewahrende hat für uns einen hohen Stellenwert, wobei man den Veränderungen gegenüber aufgeschlossen sein muss. Man muss aber auch wissen, was man dann aufgibt und was das Neue an Vorteilen bringt. Uns sind Menschen wichtig. Das heißt nicht, dass wir immer das schreiben, was die Gewaltigen wollen. Das wurde mir hier schon als Volontär klar gemacht: "Nimm das wichtig, was den Menschen wichtig ist."
"Wenn man so etwas neu einführen würde, würde man bei Lesern sicher Nachdenklichkeit erzeugen"
Ich erinnere mich an einen SZ-Redakteur, der in der freikirchlichen Szene des Siegerlandes einen Ruf wie Donnerhall hatte, ein wiedergeborener Christ, von seinen früheren Sünden befreit. Der saß in der Gerichtskantine und betete, bevor er sein Pausenbrötchen aß, um sich dann zehn Minuten später wieder mit Mördern und Eierdieben zu beschäftigen.
Sobotka: Ja, aber auch er war nur ein Redakteur von vielen. Und er war kein Religionsreporter, sondern ein Gerichtsreporter. Wir leben ja hier in einer Gegend, in der die Freikirchen eine große Rolle spielen. Das kann natürlich auch Spannungen in der Berichterstattung auslösen. Es gab mal in den achtziger Jahren die Situation, dass der Präses des Evangelischen Gemeinschaftsverbandes aus der evangelischen Kirche austrat, darüber haben wir natürlich berichtet. Wir berichten heute auch über den Pfarrer Olaf Latzel, der inzwischen in Bremen arbeitet, ein Name, der manchem Pfarrer der Landeskirche noch heute Angst und Schrecken einjagt. Wir haben auch die Agentur idea im Abonnement, in der oft über Dinge berichtet wird, die in anderen Agenturen ausgeblendet werden, die aber viele Menschen bei uns interessieren.
Wäre ein solches journalistisches Konzept auf der Seite 1 in einem anderen Kreis in Deutschland denkbar?
Sobotka: Wenn man so etwas neu einführen würde, würde man bei Lesern sicher Nachdenklichkeit erzeugen. Wenn man in einer Tradition steht, in der man das über Jahrzehnte gemacht hat, ist das eine ganz andere Sache. Da würde man eher Nachdenklichkeit erzeugen, wenn man sagt: Wir lassen das jetzt. Insofern werden Verleger und Chefredakteur das auch nicht ändern.
Die Siegener Zeitung
Wer sich der Siegener Zeitung nähert, entdeckt Besonderheiten, die auch in der bunten Landschaft der deutschen Lokalzeitungen hervorstechen. Gegründet 1823 von einem Weinhändler als Siegener Intelligenzblatt, setzte sich die Zeitung gegen viele Mitbewerber durch, einige explizit evangelisch, evangelisch-konservativ, einige radikal, andere streng kommerziell ausgerichtet. Das „Volk“ des konservativen Hofpredigers Stöcker wurde Ende des 19. Jahrhunderts von Berlin nach Siegen verlegt, weil hier, fast einzigartig im Reich, die potenzielle Leserschaft sogar für einen Lokalteil vorhanden war. Als das „Volk“ 1941 von der Bildfläche verschwand, dürfte die Siegener Zeitung deren Leserschaft fast völlig aufgesaugt haben.
Die protestantische Grundhaltung zieht sich durch Unternehmenskultur wie inhaltliche Ausrichtung: In den katholischen Gebieten des Siegerlandes hatte die Siegener Zeitung traditionell einen schweren Stand, in protestantischen Landstrichen war sie zumeist unangefochten. Die Siegener Zeitung war bis vor einigen Jahren die letzte Mittagszeitung Deutschlands und eine der letzten verbliebenen Zeitungen ihrer Größe, die noch eine Vollredaktion unterhält, also keinen Mantel von einem der großen Anbieter zukauft. Seniorverleger Wolfgang Rothmaler amtiert seit 1957 und ist damit nicht nur der mutmaßlich dienstälteste, sondern mit seinen 92 Lebensjahren auch der lebensälteste deutsche Verleger.
Soziologische Besonderheiten im Siegerland
Die spezifische Ausrichtung der Siegener Zeitung korrespondiert mit den soziologischen Besonderheiten der Region: Im ausgehenden 19. Jahrhundert war der Wahlkreis Siegen-Wittgenstein-Biedenkopf einer von zweien im Reich, in denen der erzkonservative, antisemitische Hofprediger Adolf Stöcker eine Chance auf ein Direktmandat im Reichstag hatte. Die SPD konnte sich im Siegerland erst viel später als anderswo etablieren, weil sich die Arbeiter eher der konservativen Stöcker-Linie zugehörig fühlten und die sozialdemokratischen Agitateure lieber aus ihren Kneipen hinausprügelten als sich von ihnen bekehren zu lassen. Und in den fünfziger Jahren hatte die Gesamtdeutsche Volkspartei von Gustav Heinemann in einigen Wahlbezirken des Siegerlandes sogar eine Mehrheit, während sie anderswo als Splitterpartei abschnitt. Inwieweit die politischen und religionssoziologischen Besonderheiten des Siegerlandes in Wechselwirkung mit den Besonderheiten der Siegener Zeitung stand, wäre noch Stoff für eine Forschungsarbeit. Dass es so ist, darf vorausgesetzt werden.
Dafür sind die Probleme der Siegener Zeitung im Hinblick auf die Auflagenentwicklung mit denen anderer Zeitungen sehr vergleichbar. Von ehedem 60000 ist das Blatt inzwischen auf 47000 Abonnenten zurückgegangen, steht aber damit immer noch besser da als der Mitbewerber, die Funke-Mediengruppe mit Westfalenpost und Westfälischer Rundschau, die inzwischen überhaupt keine Zahlen für das Siegerland mehr ausweist, sondern vorsichtshalber nur für das gesamte Kreisgebiet inklusive des Westfalenpost-dominierten Altkreises Wittgenstein. Und auch die Altersstruktur der Abonnenten ist mit der von anderen Zeitungen sehr vergleichbar: Die älteren Jahrgänge sind überbesetzt, beim zeitungslesenden Nachwuchs gibt es Probleme.