Bremens ehemaliger Regierungschef Jens Bö?hrnsen
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Bremens ehemaliger Regierungschef Jens Bö?hrnsen spricht er über seine Glaubensüberzeugungen.
Krieg um Glaubensfragen ist nicht hinnehmbar
Jens Böhrnsen ist Reformationsbotschafter. Im Interview spricht er über seine Glaubensüberzeugungen und das Erbe der Reformation in Bezug auf Bildung, Freiheit und Verantwortung.

Wie schätzen Sie die Bedeutung der Überwindung von Latein als alleiniger Glaubenssprache durch die Reformation ein?

Jens Böhrnsen: Wir sind frei zu glauben, wir sind frei zu denken, wir sind frei zu fragen. Das geht aber nur, wenn man auch die Quellen lesen kann. Die lateinische Sprache war eine Elitensprache. Die Übersetzung der Bibel war deshalb eine Tat, die die Menschen befreit hat und die darüber hinaus zu einer Bildungsrevolution beigetragen hat.

Stichwort "Bildungsrevolution": Die Reformation hat zu einer Forderung nach Bildung für alle Menschen geführt. Ist das heute überholt?

Böhrnsen: Eine Bildungsgerechtigkeit ist eigentlich von Anfang an in der Reformation angelegt. Und wenn wir heute auf unsere Welt schauen, dann wissen wir, dass wir noch weit davon entfernt sind. Deswegen sollte uns das mahnen, Bildung für alle nach wie vor als wichtigste gesellschaftliche Aufgabe zu begreifen. Da brauchen wir nur in unser Land zu schauen, um festzustellen, dass auch hier die Bildungschancen nach wie vor nicht gleich sind.

Die Reformation hat auch das Verhältnis zu Traditionen stark verändert. Wie beurteilen Sie das aus heutiger Sicht?

Böhrnsen: Die Menschen vor 500 Jahren waren von Mythen, von Ritualen, von Angst machenden Traditionen, Fegefeuer und Hölle geprägt. Das hat sie geplagt. Deswegen muss so etwas hinterfragt werden – daraufhin, was es mit der Freiheit des Menschen zu tun hat. Das können wir lernen. Sicherlich kann man sich nicht von allen Ängsten befreien, aber zumindest von denen, die überflüssig sind und die unserer Vernunft heute widersprechen.

"Toleranz und Respekt waren nicht in der Reformation angelegt"

Eine Folge der Reformation war ja letztendlich auch die konfessionelle Spaltung, die so natürlich nie gewollt war. Wie gehen Sie damit um?

Böhrnsen: Die Reformation war ja nicht auf eine Kirchenspaltung ausgerichtet, sondern wollte zurück zu den Ursprüngen, den Quellen des Glaubens. Das Ergebnis allerdings war am Ende die konfessionelle Trennung mit all dem Unglück, bis hin zum 30-jährigen Krieg, die das alles über Deutschland und Europa gebracht hat. Aber umso mehr ist das heute eine Mahnung, stets zu fragen: Was verbindet uns? Und sich nicht in erster Linie darauf zu fokussieren, was uns trennt. Die Ökumene, der Dialog zwischen verschiedensten Konfessionen, ist heute das Thema. Man kann wohl sagen: Toleranz und Respekt waren nicht in der Reformation angelegt. Die Reformatoren hatten vielmehr einen Wahrheitsanspruch, den auch die römische Kirche hatte, genau wie viele andere Religionen auch. Das ist etwas, was wir nicht pflegen, sondern überwinden sollten. In einer pluralen und multireligiösen Gesellschaft geht es um Toleranz und Respekt füreinander und Neugier aufeinander. Dann können wir lernen, dass der gemeinsame Kern dessen, was in den Religionen und Religionsgemeinschaften verankert ist, sehr viel wichtiger ist, als all das, was uns vielleicht an Ritualen oder Verhaltensweisen voneinander unterscheidet.

Sie haben den 30-jährigen Krieg angesprochen. Ist Waffengewalt aus Ihrer Sicht heute noch immer so etwas wie eine Ultima Ratio – oder sehen Sie da, gerade aus reformatorischer Tradition heraus, andere Möglichkeiten?

Böhrnsen: Eine Lehre der Reformation, die wir uns heute immer noch bewusst machen sollten, ist ja gerade, dass es dort, wo es um Glaube und Gewissen geht, keinen Zwang und keine Gewalt geben kann. Das ist der Kern der Freiheit des Menschen. Das heißt mit anderen Worten: Der Krieg und die Auseinandersetzung um Glaubensfragen dürfen niemals für selbstverständlich oder auch nur hinnehmbar gehalten werden. Darüber hinaus ist das natürlich auch ein Aufruf, anderen Auffassungen mit Respekt und Toleranz zu begegnen. Für mich, nach meiner christlichen Glaubensüberzeugung, ist jegliche bewaffnete Auseinandersetzung unvereinbar mit dem, was mir wichtig ist. Ich gehöre noch zu der Generation, die sich entscheiden musste, ob sie den Kriegsdienst verweigert oder ob sie Wehrdienst leistet und ich habe mich für die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen entschieden. Denn das ist ja auch ein Erbe der Reformation, dass wir sagen können: Wir folgen unserem Gewissen, wir prüfen unser Gewissen, wir schärfen unser Gewissen - und wir handeln auch am Ende danach!

Sie sind Jurist und Sie waren auch lange und erfolgreich auf dem politischen Parkett unterwegs. Gibt es für Sie so etwas wie Leitprinzipien oder Gedanken aus dem reformatorischen Ansatz, die Sie in diesen Tätigkeitsbereichen inspiriert oder beeinflusst haben?

Böhrnsen: Ich denke, dass der Glaube keine Privatsache ist, die gewissermaßen im stillen Kämmerlein gelebt wird. Sondern, dass religiöse Werte und auch die Glaubensüberzeugungen des Einzelnen ihren Ausdruck im Handeln in der Welt und der Gesellschaft finden. Ich habe es immer so verstanden, dass Freiheit im reformatorischen Sinne und Verantwortung eng zusammengehören. Freiheit heißt eben nicht, egoistisch sein Leben zu leben ohne Rücksicht auf den anderen. Sondern Freiheit heißt, in der Verantwortung für das Miteinander, in Nächstenliebe zu leben. Und das hat natürlich Einfluss auf das Verständnis, wie ich gesellschaftliche Fragen angehe: Ob ich mich zum Beispiel mit der sozialen Spaltung der Gesellschaft abfinde, oder mit der Bildungsungerechtigkeit  - oder ob ich etwas dagegen tue. Ob ich eine Solidarität verspüre mit Menschen in unserer Gesellschaft, die am Rande stehen, mit Menschen, die in anderen Ländern dieser Welt Hunger und Not leiden. Und ob ich zum Beispiel Flüchtlinge willkommen heiße oder nicht. All das sind Fragen, die sich ganz unmittelbar aus dem Glauben heraus beantworten lassen.

Sie erwähnen den Freiheitsbegriff im Zusammenhang mit sozialer Verantwortung. Was bedeutet "Freiheit" denn für Sie persönlich?

Böhrnsen: Freiheit ist nicht nur äußerliche Freiheit, sondern auch die Freiheit des Geistes. Das bedeutet, selbst zu denken. Im Glauben heißt das, wir folgen nicht einer theologischen Lehrmeinung oder irgendwelchen Hierarchen, sondern, ganz im Sinne von Luthers Priestertum aller Gläubigen: Wir alle sind gleichberechtigt, wenn es um die Frage geht, wie wir zum Glauben finden. Das ist ein großer Ausdruck von Freiheit! Deswegen mag ich die evangelische Kirche so sehr. Und Freiheit ist meiner Meinung nach darüber hinaus bei gesellschaftlichen Dingen auch der Aufruf zu konkretem Engagement. Wir sind mündige Christen geworden durch die Reformation - und mündige Christen sollten auch mündige Bürger sein. Und ein mündiger Bürger zu sein, heißt, sich zu beteiligen und die Gestaltung der Welt nicht anderen zu überlassen.

Und wie gehen Sie mit Zweifeln um? Immerhin haben Sie trotz einer gewonnenen Wahl Ihren Rücktritt erklärt…

Böhrnsen: In meinem Leben haben Glaube und Zweifel, also das Fragen und Suchen, eigentlich immer zusammengehört. Vielleicht ist das auch gut protestantisch, dass man immer wieder sein Gewissen, seine Einstellung, seine Haltung prüft. Aber wichtig ist auch, dass man, wenn man eine Haltung gefunden hat, zu ihr steht. Es gibt ja keine schönere Geschichte als die von Luther vor dem Reichstag in Worms, wo er die Worte "Hier stehe ich und kann nicht anders" gesagt haben soll. Dieses "Flagge zeigen" erfordert natürlich auch Mut, wie auch Freiheit Mut braucht. Freiheit muss erkämpft und behütet werden und eine Haltung muss gezeigt und behauptet werden.