Frau Lambrecht-Schadeberg, was verbinden Sie mit der Reformation?
Barbara Lambrecht-Schadeberg: Für mich ist Martin Luthers Bibelübersetzung am wichtigsten und damit die Möglichkeit, die Bibel in der eigenen wunderbaren Sprache zu lesen. Die Reformation hat, abgesehen von kirchenpolitischen, auch weitere politische Folgen gehabt, die heute immer noch spürbar sind und uns als evangelische Christen begleiten.
Wo wäre Reformation 2017 nötig?
Lambrecht-Schadeberg: Reformation ist immer das Hinterfragen von Tradiertem. Heute müsste man die Menschen ermutigen, dass sie Thesen, an die sie fest glauben, auch mal infrage stellen. Ohne dass ich jetzt den Finger heben und meine Kirche belehren möchte, bin ich der Ansicht, dass sie nach wie vor stark von Männern und teils überholten Denkmustern bestimmt ist.
Wer ist Martin Luther für Sie?
Lambrecht-Schadeberg: Für mich ist er der große Bibelübersetzer, der sich und seine Mitchristen zur Unmittelbarkeit zu Gott befreit hat. Durch seine Bibellektüre wurde er selbst befreit, auch von dem selbstauferlegten quälenden Wunsch nach Vervollkommnung.
Ist Luther ein Vorbild für Sie?
Lambrecht-Schadeberg: Martin Luther ist für mich insofern ein Vorbild, da er sich mit Mut und großer Konsequenz für seine Ideen, Gedanken und Ziele für die Kirche eingesetzt hat. Seine Situation in der Reichsacht war sicher nicht lustig, auch wenn er im Kurfürsten einen mächtigen Fürsprecher hatte. Ich denke, ich hätte nicht diesen Mut aufgebracht.
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Welche Impulse könnte er uns für heute geben?
Lambrecht-Schadeberg: Den Impuls, seine eigene Zeit aktiv mitzugestalten. Was für uns heute das Internet ist, war damals der Buchdruck. Wie modern Martin Luther doch damals war: Er hat es verstanden, die Mittel seiner Zeit zu nutzen. Sein Impuls für uns heißt also: Nutzt das, was euch eure eigene Zeit bietet. Macht es wirksam, um eure Botschaft weiterzutragen.
In welche gesellschaftliche Debatte würde der Reformator sich heute einmischen?
Lambrecht-Schadeberg: Er würde sich vermutlich furchtbar über den heutigen Fundamentalismus und die Extremisten aufregen, wohl auch über Hass und Gewalt. Er würde sich einmischen. So wie sich in der Zeit der Wende viele Theologen, besonders Protestanten aber auch Katholiken, in die politischen Verhältnisse eingemischt haben. Der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck ist eines der leuchtenden Beispiele für den Einsatz eines evangelischen Theologen. Das würde Luther vielleicht auch machen.
"Das Bier half den Mönchen, durch die Fastenzeit zu kommen"
Martin Luther war ein sehr geselliger Typ, der gern und viel Bier trank. Ist das Biertrinken eine gute reformatorische Tradition?
Lambrecht-Schadeberg: (Lacht) Entschuldigung, das dürfen Sie einen Menschen, der sich Zeit seines Lebens mit Bier beschäftigt hat, nicht fragen. Luther setzte die Tradition seiner Mitbrüder aus den Klöstern in früheren Jahrhunderten fort. Das Bier war in den Klöstern sehr wichtig, unter anderem, da es den Mönchen ein Stück weit half, durch die Fastenzeit zu kommen. Bier enthält ja nicht nur Alkohol, sondern auch weitere Inhaltsstoffe. Zudem war Bier im 16. Jahrhundert gesünder als Wasser – das Trinkwasser war damals nicht so sauber wie heute. Man hat die alkoholischen Getränke mit Wasser gemischt, wobei der Alkohol als Keimtöter wirkte.
Martin Luther sprach vom gnädigen Gott. Welche Bedeutung hat Gnade in Ihrem Leben?
Lambrecht-Schadeberg: Ohne die Gnade Gottes können wir doch gar nicht leben. Ich empfinde es als Geschenk, wie mein Leben mir gegeben ist. Etwa aus unangenehmen Situationen herauszufinden, ist in meinen Augen ein Gnadenakt. Auch Verzeihen zu können empfinde ich als eine Gnadengabe. Der Begriff selbst ist schon etwas altmodisch, scheinbar eher etwas für Theologen und Kirchgänger, aber dennoch sehr wichtig. Wir sollten mehr darüber nachdenken.
Welche Rolle spielen Gottesdienste in Ihrem Leben?
Lambrecht-Schadeberg: Ich bezeichne mich gern als Kanzelschwalbe. In meiner Jugend waren das die älteren Damen, die jeden Sonntag in die Kirche gingen und ganz vorne saßen und andächtig zum predigenden Pfarrer empor schauten. Ich gehe gern in die Kirche, singe gern. Auch mag ich es, durch Predigt und Gebete einen Denkanstoß für das eigene religiöse und geistliche Leben zu erhalten. Da ist die Verheißung Christi in der Gemeinde gegenwärtig. Auch mag ich moderne Gottesdienste und höre gern guten Organisten zu.
Die Kirche lebt von engagierten Menschen. Welche Rolle sollten junge Menschen in der Kirche spielen?
Lambrecht-Schadeberg: Sie sollen überhaupt keine „Rolle spielen“, sondern sich einbringen. Dazu müssen sie aber erst einmal die Chance kriegen. Junge Menschen sollten sich mit gottesdienstlichen Traditionen und Gemeindeleben auseinandersetzen, um für sich herauszufinden, wo sie sich einsetzen wollen. Manchmal hat man den Eindruck, vieles wäre stark vorgegeben und würde viel zu automatisch ablaufen. Das ist dann nicht so schön.
Was ist Ihnen im Protestantismus wichtig?
Lambrecht-Schadeberg: Mir ist die Freiheit des Einzelnen vor Gott wichtig, die Möglichkeit, sich zu informieren und selbst ein Bild zu machen. Wir sollen die Fähigkeit besitzen, etwas aus Beziehungen zu anderen zu machen, uns aber auch nicht dazwischenreden zu lassen. Das sagt doch schon der Begriff des Protestantismus. Auch wenn ich nicht immer damit einverstanden bin, was einzelne kirchliche Vertreter sagen, sollte die Kirche sich in wichtige Diskussionen einmischen und wir sollten mitdenken und mitgestalten. Das ist für mich das Beste am Protestantismus. Es geht um die Freiheit und das Denken! Man darf laut über Fragen des Glaubens nachdenken und unterschiedliche Meinungen vertreten und auch mal gegen den Strich bürsten. Damit hat der Protestantismus auch unsere politische Kultur geprägt.
Sie helfen sehr vielen Menschen mit der Barbara-Schadeberg-Stiftung. Hilft Ihnen dabei Ihr Glaube?
Lambrecht-Schadeberg: Ja sicher. Ohne die Überzeugung, etwas Sinnvolles zu tun, wäre das nicht möglich. Uns wurde bewusst, dass es immer weniger Menschen gibt, die getauft und Mitglied einer Kirche sind. Wir wollten, dass die gute Nachricht weiter erzählt wird, und daher evangelische Schulen fördern. In diesen Schulen sollen Lehrer auf einer christlichen Basis unterrichten, allerdings ohne Frömmlertum.
Wann sind Sie Gott nahe?
Lambrecht-Schadeberg: Ich hoffe im Gebet. Manchmal merkt man ja erst im Nachhinein, dass Gott einem nahe gewesen ist, ohne dass man es in dem Augenblick wahrgenommen hat oder wahrnehmen wollte. So gewiss, wie andere Leute sich dessen sind, kann ich mir noch nicht sein. Das kommt vielleicht noch. Wie ein Kind bete ich immer vor dem Einschlafen. Das sortiert auch meinen Tag. Morgens lese ich die Losungen und etwas in der Bibel. Das gehört für mich dazu.
Das Interview erschien erstmalig am 21. Juni 2016 auf evangelisch.de.