Welche Rolle sollte die evangelische Kirche in der Gesellschaft spielen?
Kerstin Griese: Ich finde es gut, dass sich viele evangelische Christinnen und Christen in der Gesellschaft engagieren. In den Kirchengemeinden sehe ich sehr viele Menschen, die sich aus ihrer christlichen Grundhaltung heraus für andere Menschen aktiv werden. Es ist gut, dass sich die evangelische Kirche für die Schwachen in unserer Gesellschaft einsetzt und eine hörbare Stimme für eine humane Flüchtlings- und Asylpolitik ist. Die evangelische Kirche versteht die Nachfolge Christi so, dass sie sich einmischt: dass sie nicht Politik macht, aber Politik möglich macht – wie es Wolfgang Huber mal formuliert hat – und dass sie in der Gesellschaft wahrnehmbar ist. Das geschieht sowohl durch die vielen aktiven Christinnen und Christen vor Ort, als auch - und das erlebe ich als Bundestagsmitglied immer wieder - durch Stellungnahmen der evangelischen Kirche zu aktuellen Themen wie der Flüchtlingspolitik oder zu ethischen Fragen wie der Sterbehilfedebatte.
Wie stehen Sie zu politischen Äußerungen bzw. politischem Engagement der Kirchen?
Griese: Die evangelische Kirche mischt sich ein und äußert sich zu den aktuellen Fragen der Zeit, wenn sie es für notwendig hält. Das ist kirchliches Engagement, das oft auch politisch wirkt. Aber es ist in erster Linie theologisch begründet und meines Erachtens für uns Evangelische Ausdruck unseres Glaubens.
Wie arbeiten Sie mit der evangelischen Kirche zusammen und wie funktioniert das?
Griese: Als SPD-Fraktionsbeauftragte für Kirchen und Religionsgemeinschaften bin ich sowohl mit der EKD, als auch mit der katholischen Kirche, mit den jüdischen Gemeinden sowie mit den muslimischen Verbänden im Gespräch. Ich versuche, in der Politik deutlich zu machen, was die Ansichten und die Arbeit der Kirche sind. Und gleichzeitig werbe ich in der Kirche für Verständnis für manche schwierigen, politischen Entscheidungen. Da bin ich als Ratsmitglied der EKD und gleichzeitig als Bundestagsabgeordnete oft in einer Brückenfunktion. Ich versuche, Politik und Kirche einander näher zur bringen, zumindest so weit, dass man die Begründungen der Haltungen gegenseitig versteht. Gemeinsam mit Wolfgang Thierse bin ich ehrenamtliche Sprecherin des Arbeitskreises Christinnen und Christen in der SPD. Dort treffen sich viele politische Menschen, die sich aus einem christlichen Grundverständnis heraus für die Ziele der Sozialdemokratie engagieren, und auch da gibt es viele Berührungspunkte mit kirchlichen Amtsträgern und Kirchengemeinden von der lokalen bis zur Landes- und Bundesebene.
"Es ist mir sehr wichtig, dass wir keine Parallelgesellschaften dulden"
Was will Ihre Partei tun, um andere Religionen als das Christentum in Deutschland zu integrieren?
Griese: Deutschland ist ein religiös vielfältigeres Land geworden, und es geht jetzt darum, diese Vielfalt als etwas Positives anzunehmen und Integration zu ermöglichen. Die Zukunft des Islams in Deutschland halte ich für die zentrale religionspolitische Frage unserer Zeit. Es ist mir sehr wichtig, dass wir keine Parallelgesellschaften dulden. Deshalb ist es gut, den Islam als wissenschaftliches Fach an den Universitäten anzubieten, islamischen Religionsunterricht an den Schulen zu etablieren sowie Religionslehrerinnen und -lehrer, Imaminnen und Imame an deutschen Hochschulen auszubilden. Integration kann nur gelingen, wenn man den Menschen ein klares Signal gibt: Sie gehören zu Deutschland – mit ihrer Religion und auch mit ihrer ganzen Persönlichkeit. Deshalb brauchen wir den interreligiösen Dialog. Die muslimischen Verbände können in unser Religionsverfassungsrecht integriert werden, wenn sie die Anforderungen erfüllen. Es gilt die Leitlinie des Grundgesetzes, an das sich alle halten müssen - sowohl diejenigen, die zu uns gekommen sind, als auch diejenigen, die hier aufgewachsen sind.
Im Grundgesetz (Artikel 140) sind Religionsfreiheit und kirchliches Selbstbestimmungsrecht in Deutschland auch im öffentlichen Bereich gewährleistet, anders als z. B. in Frankreich. Wie stehen Sie dazu (Stichwort: Tanzverbot an Karfreitag bspw.)?
Griese: Das deutsche Modell der Trennung zwischen Staat und Kirche hat sich bewährt. Der Blick auf das laizistische Frankreich, wo Religion im öffentlichen Raum nicht stattfinden darf, zeigt, dass aus Verdrängen eher Extremismus entsteht als wenn Religion zum gesellschaftlichen Leben dazugehört. Religiös oder eben auch nicht religiös zu sein gehört nun einmal zu jeder Persönlichkeit. Ich halte die fördernde Neutralität des Staates - manche haben es als hinkende Trennung von Staat und Kirche genannt - für richtig, weil sie den gesellschaftlichen Frieden gewährleistet. Unser Grundgesetz schützt die positive wie negative Religionsfreiheit. Positive, in dem der Staat jedem ermöglicht, seine Religion leben zu können und das auch öffentlich zu tun. Man darf in Deutschland eine Kippa, ein Kreuz um den Hals oder auch ein Kopftuch tragen. Gleichzeitig ist die negative Religionsfreiheit geschützt, die besagt, dass niemand diskriminiert werden darf, wenn er nicht religiös ist. Immer mehr Menschen gehören keiner Religionsgemeinschaft mehr an, was eine große religionspolitische Herausforderung ist. Es gibt zwar noch 55 Prozent Christinnen und Christen in Deutschland. Aber die Kirchen müssen sich der Frage stellen, was es bedeutet, dass die Gesellschaft gleichzeitig religiös vielfältiger und religionsferner wird. Gerade in der Bundeshauptstadt kommt beides zusammen. Berlin ist die religionsfernste Stadt Deutschlands und gleichzeitig die religiös vielfältigste. Hier müssen Kirchen und Religionsgemeinschaften aufeinander zugehen, auch mit nicht religiösen Menschen sprechen und gemeinsam überlegen: Was sind die Werte, die unsere Gesellschaft zusammenhalten? Das ist für mich das Grundgesetz als Konsens, auf den man sich einigen muss.
Hält Ihre Partei an den Privilegien für die christlichen Kirchen fest?
Griese: Das, worum es geht, sind Rechtsansprüche der Kirchen. Sie werden allerdings von vielen Menschen als Privilegien empfunden. Ich finde das Modell der Staatsleistungen an die Kirchen rechtlich vertretbar und richtig, trotzdem ist es legitim, das zu hinterfragen. Wenn man es ändern will - und die Kirchen sind dazu durchaus bereit - muss es im Einvernehmen geschehen. Am Ende entscheiden dann die Landtage, und die sind bislang immer zu dem Schluss gekommen, dass man an den Staatsleistungen festhält. Diese wurden im Zuge der Säkularisierung nach dem Reichsdeputationshauptschluss als Ausgleich eingeführt und sollten die Existenz der Kirchen sichern. Heute machen die Staatsleitungen nur etwa zwei Prozent der Einnahmen der Kirchen aus. Der weitaus größte Teil wird durch Kirchensteuermittel - also durch die Kirchenmitglieder- finanziert. Oder so wie die Arbeit anderer Wohlfahrtsorganisationen auch, wenn es sich um soziale Aufgaben handelt. Bei uns gilt das Subsidiaritätsprinzip: der Staat muss nicht alles alleine machen. Die Arbeit von Diakonie und Caritas, aber genauso auch die von der Arbeiterwohlfahrt, dem Deutschen Roten Kreuz, der Zentralwohlfahrtsstelle der jüdischen Gemeinden, des paritätischen Wohlfahrtsverbandes, werden vom Staat finanziert, weil wir diese Vielfalt wollen und es wichtig finden, dass es eine Auswahl zwischen verschiedenen Kitas oder Krankenhäusern gibt. Das ist gut für die soziale Arbeit, und da werden kirchliche Träger gleichberechtigt behandelt.
Wie soll es Ihrer Meinung nach mit der Kirchensteuer weitergehen?
Griese: Die Kirchensteuer ist ein gesetzlich verbrieftes Recht, das jeder anerkannten Religionsgemeinschaft zusteht. Der Staat zieht die Kirchensteuer ein und wird dafür von den Kirchen bezahlt - und zwar ziemlich gut. Da es von gegenseitigem Nutzen ist, sehe ich keinen Änderungsbedarf.
"Wissen hilft gegen Vorurteile"
Sollte es in Zukunft weiterhin konfessions- und religionsgetrennten Unterricht an Schulen geben?
Griese: Angesichts der Veränderungen in der Gesellschaft ist es wichtig, dass es Religions- und Ethikunterricht an den Schulen gibt. Am liebsten sollen so viele Kinder wie möglich gemeinsam unterrichtet werden, damit sie voneinander und miteinander lernen können. In den Bundesländern gibt es unterschiedliche Regelungen dazu. Selbstverständlich brauchen wir auch den islamischen Religionsunterricht an unseren Schulen. In den meisten Bundesländern gibt es schon Konzepte und sie beginnen damit. Denn man muss die eigene Religion kennen, wenn man andere Religionen verstehen will. Und Konflikte werden weniger, wenn man mehr voneinander und übereinander weiß. Unser evangelischer Religionsunterricht hat bewusst einen bekenntnisorientierten Standpunkt, aber er ist offen dafür, etwas über andere Religionen und auch über den Atheismus zu lernen. Diese Vielfalt muss sich im Unterricht abbilden. Wissen hilft gegen Vorurteile, die die Wurzel von Gewalt und Extremismus sind.
Wie halten Sie es mit dem Kirchenasyl?
Griese: Ich habe großes Verständnis dafür, dass Gemeinden in äußersten Notfällen - und um die geht es - aufgrund ihrer christlichen Werte Kirchenasyl gewähren. Es gibt intensive Gespräche zwischen dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und den Kirchen, wie damit umgegangen werden kann. Es ist falsch, dass in Bayern Pfarrer vor den Staatsanwalt gezerrt werden, weil in ihren Gemeinden Kirchenasyl gewährt wird. Ein Kirchenasyl führt dazu, dass die Fälle nochmal überprüft werden und in einem großen Teil der Fälle ein Bleiberecht das Ergebnis ist. Das Kirchenasyl muss immer eine Ausnahme bleiben, aber das es findet im Rahmen unserer Rechtsordnung statt. Es ist ein historisch gewachsenes Element, wie Kirchen in ihrer höchsten Not Menschen schützen können.
Wie steht Ihre Partei zur Sonntagsruhe?
Griese: Das wird in den Bundesländern entschieden. Deshalb glaube nicht, dass diese Frage im Bundestagswahlkampfes eine Rolle spielen wird, und deshalb finden Sie dazu auch keine Position im SPD-Regierungsprogramm. Die Position der SPD zur Sonntagsruhe stimmt mit der von Kirchen und Gewerkschaften überein: nämlich dass die Sonntagsruhe wichtig ist. Die Ladenöffnungszeiten sollen nicht beliebig ausgeweitet werden und Menschen nicht beliebig verfügbar sein, denn das zerreißt Familien und soziale Kontakte. Es ergibt Sinn, dass in der Schöpfungsgeschichte am siebten Tage geruht wird. Es müssen ja schon jetzt sehr viele Menschen sonntags arbeiten: Krankenschwestern und Pfleger, Busfahrerinnen und Busfahrer, Polizistinnen und Polizisten.