Welche Rolle sollte die evangelische Kirche in der Gesellschaft spielen?
Volker Beck: Eine Kirche darf die Rolle spielen, die sie spielen will. Sie ist Teil der Zivilgesellschaft. Wie politisch, wie gesellschaftsorientiert oder wie eine Kirche nach innen orientiert sein will, müssen die Gläubigen und ihre Kirche grundsätzlich selbst entscheiden. Wir als Grüne schätzen den Beitrag, den die evangelische und die katholische Kirche, aber auch die jüdische Gemeinschaft in der Gesellschaft leisten, weil sie gesellschaftliche Verantwortung übernehmen und ethische Orientierung anbieten. Gerade 2015 bei der Flüchtlingsaufnahme wären wir aufgeschmissen gewesen, als die Zahlen sprunghaft anstiegen, wenn wir uns nicht auf die kirchlichen Werke, aber auch auf die vielen Engagierten in den Kirchengemeinden hätten verlassen können. Dafür ein herzliches Danke.
Wie stehen Sie zu politischen Äußerungen beziehungsweise politischem Engagement der Kirchen?
Beck: Die Kirchen sind zivilgesellschaftliche Organisationen, wie andere auch, und haben deshalb selbstverständlich das Recht, sich in gesellschaftliche Debatten mit einzubringen. Ich denke, Kirche ist gut beraten, wenn sie ihre Impulse so übersetzen, dass sie eben auch für Menschen mit einer anderen religiösen Orientierung oder ohne religiöse Orientierung verstanden werden können. Aber es ist ihr gutes Recht, das auch anders zu handhaben.
Wie arbeiten Sie mit der evangelischen Kirche zusammen und wie funktioniert das?
Beck: Wir haben einen regelmäßigen Austausch zwischen unserem Bundesvorstand, der Bundestagsfraktion und dem Rat der EKD. Das ist ein wichtiges Forum. Und zum Büro des Bevollmächtigen habe ich ein engen und kurzen Draht. Bei vielen Fragen, wie bei der Flüchtlingsarbeit oder der Sozialpolitik gibt es einen Gleichklang der Positionen. Die Stellungnahmen der evangelischen Kirche und unsere Standpunkte liegen oft sehr nah beieinander, weil der gemeinsame Ausgangspunkt die Menschenrechtsperspektive ist. Bei anderen Fragen, wie etwa bei der Sterbehilfediskussion oder bei bioethischen Debatten, gibt es einen regen Austausch zwischen der Kirche und denjenigen, die den Positionen der Kirchen nahe stehen Aber bei solchen ethischen Grundsatzfragen gibt es in jeder Partei und in jeder Fraktion auch unterschiedliche Werthaltungen.
Was will Ihre Partei tun, um andere Religionen als das Christentum in Deutschland zu integrieren?
Beck: Grundsätzlich bietet das deutsche Religionsverfassungsrecht die Möglichkeit, dass alle Religionen sich organisieren können und in der gleichen Art und Weise von den Kooperationsangeboten des Staates in unserer Verfassung Gebrauch machen können. Wir haben beim Islam Probleme, da die existierenden Verbände weniger einer religiösen Prägung folgen, sondern vielmehr einer politischen, staatlichen und sprachlich-kulturellen. Es ist die Frage an die Muslime, ob sie sich gemäß unserem Religionsverfassungsrecht bekenntnisförmig weg von der Politisierung von Religion neu orientieren wollen, um die Kooperationsangebote anzunehmen, oder ob sie an der jetzigen politisierten Struktur festhalten und sich damit gegen die Kooperation mit unserem Staat entscheiden.
Wichtig finde ich, dass man aber nicht nur auf den Islam schaut. So dürfen wir etwa bei der Integration der Aleviten nicht warten, bis die muslimischen Organisationen sich entsprechend entschieden haben. Die Aleviten erfüllen in ihrem Zusammenschluss als Alevitische Gemeinde Deutschland die Voraussetzung, die unser Recht verlangt. Auch wenn sie eine lockerere und losere Mitgliedschaftsstruktur haben als wir das bei den meisten Kirchen kennen. Ich glaube, dass wir uns in den nächsten Jahren stärker für Hindus, buddhistische Gemeinschaften und auch für die Sikh öffnen werden. Wir müssen aufpassen, dass wir die religiöse Pluralität nicht nur auf die Diskussion über den Islam verkürzen.
Im Grundgesetz (Artikel 140) sind Religionsfreiheit und kirchliches Selbstbestimmungsrecht in Deutschland auch im öffentlichen Bereich gewährleistet, anders als zum Beispiel in Frankreich. Wie stehen Sie dazu (Stichwort: Tanzverbot an Karfreitag beispielsweise)?
Beck: Bei uns in der Partei ist heftig diskutiert, inwiefern das Religionsverfassungsrecht, wie wir es im Artikel 140 Grundgesetz vorfinden, fair und zukunftsfest ist. Wir haben in der Kommission gesagt, dass Änderungen am Status Quo der Begründung bedürfen: Wer wird tatsächlich durch welche Regelung zurückgesetzt?
Am Reißbrett oder im politischen Oberseminar würde man heute möglicherweise ein solches Religionsverfassungsrecht für ein fiktives neues Land ohne Geschichte und ohne entsprechende tatsächliche Voraussetzungen nicht unbedingt in die Verfassung schreiben. Aber das ist ja auch nicht die Frage. Es steht so im Grundgesetz und ich persönlich finde das Modell gut. Es ermöglicht und erzwingt fast, und es verlockt auch dazu, dass Religionsgemeinschaften sich mit Gesellschaft und mit den Werten des demokratischen Rechtsstaats auseinandersetzen müssen und bietet ihnen im Gegenzug Entfaltungsmöglichkeiten. Deshalb sollte man meiner Ansicht nach an diesem Recht grundsätzlich festhalten. Ich halte es gegenüber der klinischen Trennung von Staat und Kirche, wie wir sie in Frankreich haben, für vorzugswürdig.
Es kommt nicht von ungefähr, dass die fundamentalistischen Kräfte, sowohl im Islam als auch bei Teilen der Evangelikalen und den katholischen Integristen sagen, dass ihnen dieses kooperative Modell ein Dorn im Auge ist, weil es die Religion mit den Werten der Moderne konfrontiert und damit die eher enggeführten und unbeweglicheren religiösen Haltungen verwässere. Ich glaube, es stärkt den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Deshalb bin ich ganz zufrieden mit dem, was wir haben.
"Bei der Anwendung des kirchlichen Arbeitsrechtes sehe ich erheblichen Modernisierungsbedarf"
Aber wir müssen auch sehen, wo es Unwuchten gibt, die nicht so sehr aus dem Religionsverfassungsrecht beruhen, sondern aus unserer religionspolitischen Geschichte stammen. Angesichts von Säkularisierung und Pluralisierung müssen wir ein stärkeres Augenmerk auf die Rechte von Andersgläubigen oder von Religionsfreien gegenüber den etablierten Kirchen legen.
Bei der Anwendung des kirchlichen Arbeitsrechtes sehe ich erheblichen Modernisierungsbedarf. Die Vorstellung von persönlichen Loyalitätspflichten im Arbeitsrecht, die bis in das Privatleben von Beschäftigten reichen, in einem demokratischen Verfassungsstaat deutlich zulasten der Arbeitnehmerrechte überdehnt ist. Den Arbeitgebern, auch den kirchlichen, geht außerhalb den Bereichen der Verkündigung das Privatleben ihrer Mitarbeiter nichts an. Da reicht ein normaler Tendenzschutz, wie ihn auch Parteien, Gewerkschaften oder Medienunternehmen haben. Ich muss mich beim Tendenzbetrieb konform zu der Meinung meines Arbeitgebers verhalten und artikulieren, aber ich muss nicht so leben, wie er das vorsieht. Ich kann ja auch nicht von einem Mitarbeiter der Grünen Parteigeschäftsstelle verlangen, dass er vegan lebt oder ihn kündigen, wenn ich ihn beim Burgeressen bei McDonalds "erwischt" habe.
Hält Ihre Partei an den Privilegien für die christlichen Kirchen fest?
Beck: Ich weiß gar nicht, was "Privilegien", Vorrechte, der christlichen Kirchen sein sollen. Ich sehe da eher Rechtspositionen, die keine Privilegien sind, da sie grundsätzlich als Rechte für jede Religions- und Weltanschauungsgemeinschaft zugänglich sind. Privilegien wären es, wenn sie exklusiv den beiden großen Kirchen zuständen. Die alten Rechte der Kirchen wurden 1919 in ihren Rechten belassen, aber anderen Religionsgemeinschaften, die Verfassung spricht da im Artikel 140 des Grundgesetzes von Religionsgesellschaften, sind "auf ihren Antrag gleiche Rechte zu gewähren." Allerdings müssen sie Religionsgesellschaften sein und nicht bloß religiöse Vereine. Wenn sie das sind, haben sie Anspruch eine Steuer zu erheben, wie die jüdische Gemeinschaft zum Beispiel eine Gemeindesteuer statt der Kirchensteuer erhebt. Denkbar ist auch, dass Buddhisten eine Tempelsteuer, Aleviten eine Cemsteuer und Muslime eine Moscheesteuer erheben. Dies ist also nicht allein auf die christlichen Kirchen beschränkt.
Nur bei wenigen Punkten sehe ich Veränderungsbedarf. Zum Beispiel wird der Gotteslästerungsparagraph, Beschimpfung religiöser Bekenntnisse, komischerweise überwiegend bemüht, wenn es um das Christentum geht. Wenn die islamische Religion herabgewürdigt oder verspottet wird, gibt es in der Regel noch nicht einmal ein Ermittlungsverfahren. Ich denke aber auch, religiöse Gefühle, ob muslimisch, christlich oder jüdisch, haben keinen anderen Anspruch auf rechtlichen Schutz als die Gefühle anderer sozialer Gruppen. Deshalb müssen der Volksverhetzungsparagraph und die Straftatbestände von Beleidigung und übler Nachrede grundsätzlich ausreichen. Da braucht es kein Sonderrecht für Gläubige. Wir haben uns gerade im Strafrecht von der Majestätsbeleidigung verabschiedet. Beide Paragraphen sind rechtliche Relikte aus der vordemokratischen Zeit des Bündnisses von Thron und Altar. Beide sollten auch gemeinsam aus unserem Strafgesetzbuch in die Rechtsgeschichte verschwinden.
Wie soll es Ihrer Meinung nach mit der Kirchensteuer weitergehen?
Beck: Die Kirchensteuer betrifft diejenigen, die nicht in einer Kirche Mitglied sind, die sie erhebt, überhaupt nicht. Diejenigen, die Kirchensteuer zahlen, tun das freiwillig. Wenn sie keine Kirchensteuer zahlen wollen, können sie durch Austritt diese Verpflichtung für sich jederzeit aufheben. Die einzige Unstimmigkeit, die ich sehe, ist, dass Kirchensteuerzahler ihre Kirchensteuer steuermindernd bei der Einkommenssteuer geltend machen können. Deshalb haben wir gesagt, dass für diejenigen, die keine Kirchensteuer zahlen, entweder weil ihre religiöse Gemeinschaft sie nicht erhebt oder weil sie selber in keiner Gemeinschaft sind, die Möglichkeit besteht, in gleicher Höhe eines fiktiven Kirchensteuerbetrags mit den gleichen steuerrechtlichen Effekten zusätzlich spenden zu können. Voraussetzung ist natürlich, dass sie auch spenden. Wer das tun möchte, kann das zusätzlich zu den jetzigen Steuerfreibeträgen für die Spenden im gemeinnützigen- und mildtätigen Bereich hinaus tun. Damit wäre Gleichstellung geschaffen.
Wir haben kein Interesse, die Kirchen durch eine Veränderung bei diesen Einzugsmodalitäten künstlich arm zu machen. Es ist kein Geld des Staates, sondern der Kirchenmitglieder. Wenn wir durch eine Komplizierung und irgendwelche anderen Schikanen versuchen, den Kirchen die Einkommensbasis zu nehmen, schwächen wir nur ihr soziales Engagement. Wer kümmert sich dann um Illegale, wer kümmert sich um die Obdachlosenhilfe, da wo der Staat kein Geld gibt? Wer kümmert sich um die, die keine Stimme haben? Das sind nicht allein, aber doch oftmals die Kirchen, kirchliche Werke und auch die Kirchengemeinden mit dem Geld, das sie eben über die Kirchensteuer einnehmen. Niemand hätte etwas Positives davon, aber viele einen Schaden, wenn man daran die Axt legen würde.
Sollte es in Zukunft weiterhin konfessions- und religionsgetrennten Unterricht an Schulen geben?
Beck: Das müssen grundsätzlich die Bundesländer und die Religionsgemeinschaften selbst entscheiden. Es gibt unterschiedliche Wege. So gibt es die Länder mit der "Bremer Klausel", zu denen Berlin gehört. Dort wird ist der bekenntnisförmige Religionsunterricht kein ordentliches Lehrfach. Es gibt den "Hamburger Weg", den die evangelische Kirche mit allen anderen bis auf den Katholiken beschritten hat. Hier wird der Religionsunterricht interreligiös erteilt. Und es gibt die überwiegende Zahl der Bundesländer, die konfessions- und bekenntnisbezogenen Unterricht haben. Ich finde es grundsätzlich richtig, dass man in der Schule und nicht in irgendwelchen Bibelschulen oder Koranschulen im Hinterzimmer seine Religion als Geglaubtes vermittelt bekommt. Wichtig ist für mich aber, dass das nicht das einzige Fach sein darf, in dem Religion im Schulunterricht thematisiert wird. Es gehört zum historischen und gesellschaftspolitischen Bildungskanon dazu, dass die grundsätzlichen Inhalte und Erzählungen der großen Weltreligionen, ihre Rituale und ihre Heiligkeitsvorstellungen den Schülern vermittelt werden. Man kann Anderen nur mit Respekt begegnen, wenn man einen gewissen Grundbegriff von dem hat, wer oder was der andere ist. Da gibt es erhebliche Defizite bis hin zur völligen Unkenntnis der eigenen Kulturgeschichte.
"Geschichte zu verstehen ist eine Voraussetzung dafür, die Zukunft zu gestalten"
Ich erzähle gern eine Geschichte: Als ich im Berliner Bodemuseum vor einem Altar aus dem 14. Jahrhundert stand, kam eine Gruppe von Berliner Schülerinnen und Schülern - um die 14 und 15 Jahre - herein. Eine Schülerin zeigte auf den Altar und fragte: "Warum hängen da drei Männer an diesen Pfählen?" Wer in Deutschland lebt und die Kreuzigungsgeschichte nicht erkennt, der ist nicht nur kein Christ, das darf er nämlich sein, der kennt aber maßgebliche historische und kulturelle Inhalte unserer Geschichte nicht. Das macht mir Sorgen. Geschichte zu verstehen ist eine Voraussetzung dafür, die Zukunft zu gestalten. Dazu gehört die Geschichte des Judentums und des Christentums. Heute sollte man aber auch die Geschichte der anderen Weltreligionen zumindest in ihren Grundbegriffen kennenlernen.
Wie halten Sie es mit dem Kirchenasyl?
Beck: Das Kirchenasyl ist etwas Gewachsenes in der abendländischen Geschichtstradition. Der Staat respektiert bei extremen Fällen, dass Kirchen zugunsten der Menschen eine Entscheidung treffen, die ein Stück weit jenseits des formalen Rechts liegt: Gnade vor Recht. Die Politik sollte meiner Meinung nach akzeptieren, dass die Kirchen als moralische und ethische Mahner manchmal sagen, dass das Recht zu einem bestimmten Ergebnis gekommen sein mag, sie aber trotzdem der Ansicht sind, dass das Ergebnis nicht human ist und man sich um die Betroffenen dennoch kümmern muss. Diese Möglichkeit sollte man den Kirchen nicht nehmen. Viel zu oft sind rechtsfeste Entscheidungen menschlich oder integrationspolitisch nicht richtig.
Die geringen Zahlen des Kirchenasyls zeigen, dass die Kirchen damit sehr verantwortlich und nicht beliebig umgehen. Es bleibt richtig, dass der Staat den Anspruch hat, das Recht durchzusetzen. Aber es ist gut, dass man das Recht gegen Menschen nicht um jeden Preis durchsetzt. Manchmal muss man Dinge auch neu abwägen. Ich habe sehr viel mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und seinen Entscheidungen zu tun. Da sehe ich immer wieder viele Fälle, etwa zu konvertierten Christen oder LGBT, wo die Entscheidungen neben dem geltenden Recht liegen. Nicht jeder Flüchtling ist rechtlich so gut beraten, nicht jeder ist so gut betreut, seine Rechte im Verfahren auch kompetent wahrzunehmen, so dass er auch tatsächlich zu seinem Recht kommt.
"Der arbeitsfreie Wochentag ist ein Geschenk des Judentums und des Christentums an die säkulare Welt"
Wie stehen Sie zur Sonntagsruhe?
Beck: Der arbeitsfreie Wochentag ist ein Geschenk des Judentums und des Christentums an die säkulare Welt. Auch an den gesetzlichen Feiertagen wollen wir festhalten: Die Gesellschaft braucht Sonn- und Feiertage, damit sich die Menschen jenseits von Büro und Ladenöffnungszeiten ausruhen und das soziale Miteinander pflegen können. Die Feiertagsgesetze der Länder können der Veränderung und den Bedürfnissen der Länder entsprechend gestaltet, überprüft und gegebenenfalls angepasst werden. Wir wollen die Feiertage jedoch nicht reduzieren.