Tooor! Tor für Deutschland! Das ist die 1:0 Führung in der dritten Spielminute. Riesenjubel in der Arena am Anhalter Bahnhof in Berlin. Taime Kuttig verwandelt den Freistoß für Deutschland.
Er ist brandgefährlich in diesen Standardsituationen, das hat die Mannschaft im Trainingslager geübt. Der Ball wird vorgelegt von Jonathan Tönsing, dem 17-jährigen Youngster im Team, Kuttig tritt einen Schritt nach rechts und schießt mit links durch die Beine von Massimo D’Attolico ins rechte Eck. Keine Chance für Marco La Macchia, den Torwart der italienischen Mannschaft.
Jetzt aber Ruhe bitte, das Spiel geht weiter.
Das war das erste Tor im Auftaktspiel zwischen Gastgeber Deutschland und Italien im ersten internationalen Blindenfußballturnier in Deutschland. Es ist ein Spiel, wie sonst im Fußball auch - und doch ist alles anders: Es gibt ein anderes Reglement und es herrscht ein ganz besonderer Soundtrack auf dem Platz.
Tor, Spielfeld und Mannschaft sind kleiner und die Spielzeit ist kürzer als beim sehenden Fußball. Eine Halbzeit dauert 20 Minuten, kann - je nach Anzahl der Fouls, Timeouts und Auswechslungen - aber auch bis zu 40 Minuten lang werden. Gespielt wird auf einem Kunstrasenplatz, der an den Längsseiten von einer Bande begrenzt ist, die den Spielern Orientierung und Sicherheit gibt. Auf dem Platz stehen vier blinde Feldspieler und der sehende Torwart. Zusätzlich gibt es außerhalb des Spielfelds noch zwei sehende Guides, die gemeinsam mit dem Torwart die Mannschaft koordinieren, auch wenn diese Hilfe nur "minimal sein sollte", wie Trainer Ulrich Pfisterer sagt, "denn die Spieler sind keine Marionetten, es ist ihr Spiel und sie sollen selber die Optionen herausfinden."
Das Team besteht somit aus drei Sehenden und vier Blinden. Doch so schlicht die Zahlen, so komplex das Zusammenspiel von Sehenden und Hörenden, die auf dem Platz ihre eigene Symphonie komponieren.
Der Fußball hat Rasseln in seinem Inneren, die ein Spiel über das Gehör erst möglich macht. Zudem ist jeder Spieler verpflichtet, das international gebrauchte Wort "Voy!" ("Ich komme!") zu rufen, wenn er sich dem Ball oder Gegenspieler nähert. Wer das nicht oder zumindest nicht rechtzeitigt ruft, begeht ein Foul. "Voy" kommt aus dem Spanischen, denn das Spiel ist aus Südamerika zu uns gekommen.
"Wenn man gut eingespielt ist", erklärt Jonathan Tönsing, der zum ersten Mal im Nationalteam steht, "kann man von da, wo der Ball kommt, und über die Kommunikation sehr gut herausfiltern, wer gerade den Ball hat. Das ist alles Trainingssache."
Bei Freistoß oder Strafstoß wird dem Schützen durch Abklopfen des Tores die rechte und linke Begrenzung signalisiert und der Hintertorguide gibt weitere Informationen.
Wiederum mahnt der Stadionsprecher zur Ruhe. Das Eröffnungsspiel ist mit über 2000 Zuschauern fast ausverkauft, eine große Kulisse für den noch unbekannten Sport. Doch wird es laut, können die Spieler den Ball nicht mehr hören. Die größten Probleme sind jedoch Hubschrauberüberflüge und Kirchenglocken, erklärt Teammanager Rolf Husmann. Sie hätten das am letzten Tag beim entscheidenden Spiel der Bundesliga in Lübeck erlebt. Samstag, 12 Uhr, setzt das Glockenläuten ein. Das Spiel wurde so lange unterbrochen, anders ging es nicht.
Beim Eröffnungsspiel am Freitagabend aber war es ein heftiges Gewitter, das erst zu einer Unterbrechung und schließlich sogar zum Spielabbruch führte. Die Fortsetzung folgte Samstagvormittag. Auch das ein Novum, tatsächlich gibt es noch keine Spielordnung für die Europameisterschaft und insofern keine Regel für eine solche Situation. Hätten sich die Schiedsrichter am sehenden Fußball orientiert, hätte das Spiel bei 0:0 neu starten müssen.
Die deutsche Mannschaft erspielte sich noch einige Torchancen, doch es blieb beim 2:0.
Hoffnung Halbfinale
Trainer, Manager und Spieler sind optimistisch. Sie betonen, dass die deutsche Mannschaft die beste, fitteste und ausgeglichenste sei, die es je gegeben habe. Deutschland ist keineswegs als Favorit in das Turnier gegangen, das ist der Titelverteidiger Türkei, wo allerdings unter semiprofessionellen Bedingungen gespielt wird. Das Team hofft zumindest das Halbfinale zu erreichen, denn das bedeutet die Qualifikation für die WM im kommenden Jahr in Spanien.
Aber auch schon jetzt sei viel erreicht, sagen sie. Denn neben dem sportlichen gibt es noch ein anderes großes Ziel: die Sportart bekannter machen. Denn die paralympische Sportart Blindenfußball ist auch unter Sportlern selbst erstaunlich unbekannt, wie DSB-Präsident Friedhelm Julius Beucher in der Pressekonferenz betont. "Jede Veranstaltung wo Para-Sportler auftreten, trägt dazu bei, dass diese Kenntnislücken geschlossen werden. Und wer die besondere Leistung einer Athletin oder eines Athleten erlebt, der ist von einem Bazillus angefasst. Und da kommen sie auch nicht von los", schwärmt er.
Es ist eine rasante Entwicklung einer Sportart, die es in Deutschland überhaupt erst seit gut einem Jahrzehnt gibt. Auf den neuen Trainingspullis prangt jetzt das Logo der DFB-Stiftung Sepp Herberger. "Wir hoffen, dass sich das noch ausbaut", sagt Husmann zur Unterstützung durch den Deutschen Fußball-Bund. Und dabei kommen in Deutschland nur 30 Spieler aufgrund ihrer Qualität überhaupt für das Nationalteam in Frage, denn nach den Regeln des Blindensportverbands (IBSA) dürfen nur B1 klassifizierte Blindenfußballer international spielen. Die Blindenfußballer werden in verschiedene Sehklassen von B1 bis B4 eingestuft, dabei sind die B1-Spieler die, die fast oder ganz blind sind.
Sportpolitik oder Inklusion?
Doch im Sinne der Inklusion wünscht sich Rolf Husman, dass die strikte Regel aufgeweicht würde. Denn tatsächlich könnten auch Sehende Blindenfußball spielen: Sie bräuchten sich nur die blickdichten Brillen aufsetzen und natürlich ihren Hörsinn trainieren.
Das sei eine sportpolitische Entscheidung, erklärt Husmann. Eine Änderung dieser Regel werde von den Ländern verhindert, die so viele B1-Spieler haben, dass sie sich keine unnötige Konkurrenz schaffen wollen. "In der Türkei gibt es wahrscheinlich 500, in Brasilien 1000, in China 2000 B1-Spieler. Und die Länder, die vorne sind, sind natürlich auch deshalb vorne, weil sie ein größeres Auswahlpotential haben. Die fragen sich: Warum sollen wir dem zustimmen, dass alle spielen dürfen? Ich persönlich würde es sehr begrüßen, wenn andere mitspielen, weil das im Sinne der Inklusion ja das ist, was wir wollen. Im Rollstuhlbasketball ist es so, dass da auch Spieler mitspielen können wie Sie und ich. Die sitzen im Rollstuhl und spielen Basketball. Dort gibt es eine Quote, die festlegt, dass eben nur eine gewisse Anzahl von Nicht-Behinderten mitspielen darf. Ob das im Blindenfußball mal so kommt, weiß man nicht, aber im Moment ist das völlig unrealistisch."
Das Spiel ist aus, es darf wieder laut werden. Am Ausgang gibt es Strohhüte und Sportbeutel sowie T-Shirts mit dem zum Soundtrack passenden Slogen "The Sound of Football". Wobei die Buchstaben der Worte stellenweise leicht am verschwinden sind.