Es ist ein tägliches Ritual für die Menschen in der Hamburger Neustadt, um einen Moment innezuhalten. Vom Turm des Michel erklingt ein kleines Trompeten-Stück in alle vier Himmelrichtungen. Seit 25 Jahren wechseln sich Horst Huhn (61) und Josef Thöne (57) als Michel-Türmer ab. Gemeinsam werden sie am Dienstag ihr 25-jähriges Dienstjubiläum feiern. Nur einmal musste der Choral ausfallen.
Türmer gibt es in vielen evangelischen Gemeinden. Dass allerdings täglich ein Choral geblasen wird, ist nach Auskunft der Gemeinde bundesweit einmalig. Der Brauch wurde bereits während der Reformation in Hamburg eingeführt und wird im Michel seit mehr als 300 Jahren praktiziert. Schon die erste St. Michaelis-Kirche, die 1661 eingeweiht und 1750 durch einen Brand zerstört wurde, hatte einen Türmer. Bis zum Jahr 1861 war der Trompeten-Choral das Zeichen für die Öffnung und Schließung der Stadttore.
Kirchenlieder aus dem 16. und 17. Jahrhundert
Heute blasen die Michel-Türmer werktags um 10 Uhr und um 21 Uhr sowie sonntags um 12 Uhr auf dem "Türmerboden", der im siebten Stock des Turms 279 Stufen über dem Eingang liegt. Sie spielen jeweils eine Strophe aus einem der vier Fenster, beginnend in Richtung Osten. Jeden Tag ist ein anderer Choral zu hören. Meist sind es evangelische Kirchenlieder aus dem 16. und 17. Jahrhundert.
Horst Huhn kennt St. Michaelis seit Kindertagen. Er ist im Schatten der Hauptkirche aufgewachsen und hat im Knaben- und im Jugendchor gesungen. Horst Thöne wohnte als Student in der Neustadt, und beide kannten sich vom Musikstudium her. Schon beim Vorgänger Hans-Heinrich Fiedler hatten sie ausgeholfen. Als die Stelle 1992 frei wurde, beschlossen beide, das Türmer-Amt gemeinsam zu übernehmen.
Ihre Dienstpläne müssen sie exakt aufeinander abstimmen. Für Notfälle stehen Aushilfen bereit. Horst Huhn ist freiberuflicher Musiklehrer und als Konzert-Trompeter auf Tournee im In- und Ausland gewesen. Josef Thöne ist Lehrer an der Jugendmusikschule und leitet seit 22 Jahren den Posaunenchor der St. Michaelis-Gemeinde.
Der Choral sei wie ein "täglicher Segen für die Stadt", sagt Michael Kutz, Geschäftsführer der Michel-Stiftung. Viele Menschen in der Umgebung würden dann kurz verharren und zuhören. Es sei für viele offenbar ein Zeichen, dass es "mehr gibt zwischen Himmel und Erde" als das Alltagsgeschäft.
Nur ein einziges Mal ist der Choral ausgefallen, erinnert sich Horst Huhn. Da ist er auf dem Weg zur Kirche vom Fahrrad gestürzt und hatte sich die Hand gebrochen. Als in den 90er Jahren der "Türmerboden" saniert werden musste, haben sie auf der Aussichtsplattform gespielt. Einmal habe er einen Choral abbrechen müssen, sagt Josef Thöne, weil bei eisiger Kälte die Trompete eingefroren war. Kälte sei normalerweise nicht schlimm, nur Sturm mache einem Bläser zu schaffen. Thöne: "Man muss dann kräftig gegenhalten."
Zu ihrem Dienstbeginn haben beide Türmer einmal gemeinsam gespielt. Nach 25 Jahren soll dies am Jubiläumstag erstmals wiederholt werden. Der Choral für diesen Tag steht auch schon fest: "Oh, dass ich tausend Zungen hätte".