Herbert Lüdtke kennt den deutschen Alltagsrassismus gut. Er hat in den 1970ern eine schwarze Britin geheiratet, mit der er zwei Kinder hat. Ständig sei er damals als Ehemann und Vater in Habacht-Stellung gewesen, sagt er. "Meine Frau und Kinder mussten und müssen viel ertragen." Die ekligsten Sachen sollen hier unerwähnt bleiben. Sie sind beschämend; so, wie es die alltäglichen Demütigungen auch sind: Leute, die demonstrativ die Straßenseite wechselten oder ein Mensch, der den Hörer in der Telefonzelle abwischte, nachdem Lüdtkes damalige Frau sie verlassen hatte.
Herbert Lüdtke kennt sich also mit Beschimpfungen und Beleidigungen aller Art aus. Er kann nachvollziehen, wie es Menschen in Deutschland ergehen kann, die nicht mitteleuropäisch aussehen. Seit dem Jahr 1989 ist Herbert Lüdtke Pfarrer in Steinbach im Taunus. Als Anfang der 1990er Jahre viele Menschen vom Balkan nach Deutschland flüchteten, hat er in Steinbach den Arbeitskreis Asyl mitgegründet. Aus dieser Zeit stammt auch die Unterkunft für Geflüchtete im Ort.
Zwischenzeitlich stand die Unterkunft für Geflüchtete leer. Doch im Jahr 2013 nahm der Arbeitskreis Asyl seine Arbeit wieder auf. Im Jahr 2014 zogen Menschen ein, als die 10.000-Einwohner-Gemeinde Steinbach begann, wie fast alle deutschen Städte, Geflüchtete aufzunehmen. Circa 150 Geflüchtete habe Steinbach seitdem aufgenommen, gibt die Stadt auf ihrer Internetseite an.
Nicht jedem in Steinbach gefällt die Hilfe für Geflüchtete: Im Winter 2015/2016 rissen Unbekannte nachts ein Plakat mit dem Bibelspruch "Ihr sollt die Fremdlinge nicht bedrücken" vom Kirchenzaun.
Weil bald der Bundestag gewählt wird und rechte politische Kräfte mit Parolen gegen Geflüchtete auf Stimmenfang gehen, wollen die Mitglieder des Arbeitskreises Asyl in Steinbach ein Zeichen setzen: Sie verfassten bereits im Februar 2017 die "Steinbacher Erklärung", die bis heute ungefähr 400 Vereine und Einzelpersonen unterschrieben haben. "Damit das Leben in Steinbach lebenswert bleibt, lehnen wir jeglichen Extremismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus in unserer Stadt ab", heißt es darin beispielsweise.
Ein unter Pseudonym schreibender Autor des rechtspopulistischen Blogs "Politically Incorrect" forderte daraufhin im März seine Leser dazu auf, sich gegen die Verfasser der "Steinbacher Erklärung" zu positionieren. Denn "Steinbach besitzt schon heute einen (offiziellen) Ausländeranteil von 19 Prozent und gilt schon als ordentlich islamisch bereichert. Nun soll dieser Zustand auch gefälligst jedem gefallen und zum Normalzustand, der ausgebaut gehört, ernannt werden. Wer sich dem verweigert, gehört nicht mehr zur 'guten Gesellschaft' und im Sinne der 'Flüchtlingshelfer' aus der Stadt vertrieben", schreibt der Autor, der sich "Mark Aber" nennt.
Damit sich die Leser an die "links-kirchliche Kamarilla" wenden können, die die Erklärung verfasst habe, stellte Autor "Aber" die Fotos des Pfarrers und des katholischen Pastoralreferenten samt Adresse auf die Internetseite.
Die beiden bekamen daraufhin Post, vor allem E-Mails. Zwischen 50 bis 60 Hass-E-Mails seien es gewesen, die auf die Veröffentlichung des pi-news-Artikels innerhalb von einer Woche folgten. Reusch und Lüdtke befänden sich in "hitlerischer totalitärer Tradition", weil sie "den Leuten eine Gesinnung aufzwingen". Lüdtke sei "pädophiler Abschaum", weil alle Pfarrer Kinder missbrauchen würden. Er heiße "Vergewaltigungsprogrome seitens der muslimischen Invasoren" gut, indem er den "Abfall aus Nordafrika und Middle East" aufnehme. Ein Manuel Klinge, mit russischer E-Mail-Adresse, schreibt: "Deutschland und Europa werden wieder Monokulturen, wie Gott sie will und linke Zecken wie ihr werdet unsere Sklaven in Arbeitslagern."
Es werde gewaltig krachen, drohte einer. Dann flogen Herbert Lüdtke Bierflaschen an die blaue Tür des Pfarrhauses. Seitdem schaut er zuerst durch den Spion an der Haustür, bevor er die Tür öffnet. Gemeinsam mit dem katholischen Pastoralreferenten Christof Reusch beschloss er die Drohungen ernst zu nehmen und erhob Anklage bei der Staatsanwaltschaft in Darmstadt; wegen Bedrohung, Beleidigung, Beschimpfung von Glaubensbekenntnissen und Volksverhetzung durch den Betreiber der Internetseite.
Doch der Serverbetreiber, auf dem die Internetseite pi-news verwaltet wird, steht in den USA. Für deutsche Behörden und Gerichte bedeutet das: keine Handhabe. Und der Autor des Textes versteckt sich hinter Anonymität - nicht so jedoch manche Schreiber der Hassmails, denen Herbert Lüdtke deshalb auch geantwortet hat. Ein einziger habe sich sogar dem Dialog gestellt und sich für die harten Worte entschuldigt.