Und als sie, umhüllt von weißem Stoff, fort getragen wird, ist es still - totenstill. Keine Musik, kein Rascheln der Blätter im Wind, als halte die Welt für einen Moment den Atem an. Selbst die Grillen, die zuvor noch zirpten, sind verstummt. Es dämmert. Es ist der Übergang vom Abend in die Nacht, vom Leben in den Tod. Etwas Seltenes geschieht an diesem Sommerabend auf dem Evangelischen Südwestkirchhof in Stahnsdorf, südwestlich von Berlin. Etwa 500 Gäste schauen und lauschen einer Open-Air-Aufführung mit Poesie, Tanz und Musik. Die Bühne ist ein Urnenhain. Sie haben sich auf dieses Experiment eingelassen. Zuschauer und Künstler wollen dem Geheimnis des Todes auf den Grund fühlen, sinnlich erfahrbar gemacht mit einem Bühnenstück.
"Wir wissen nichts von diesem Hingehn, das nicht mit uns teilt. Wir haben keinen Grund, Bewunderung und Liebe oder Hass dem Tod zu zeigen…", rezitiert Schauspieler Léon Schröder aus dem Gedicht "Todeserfahrung" von Rainer Maria Rilke. Seine Lyrik bildet das Fundament des Abends.
Die Vorstellung wechselt zwischen Poesie und Tanz, wird getragen durch Musik von Maurice Ravel, Gustav Holst und Gabriel Fauré - zuweilen melancholisch gedämpft, aber auch tänzerisch beschwingt. Junge Künstler der Dance Company Erxleben aus Potsdam tragen das Bühnenstück vor, das an diesem Abend gleich drei Mal aufgeführt wird. Es trägt den Titel "Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden", ebenfalls nach einem Gedicht von Rainer Maria Rilke.
Wenn die Trauer nicht loslässt
Die Handlung: es geht um einen betagten Mann, der seine Frau verloren hat und über ihren Tod nicht hinwegkommt, sie nicht loslassen kann. So führt er Zwiegespräche mit sich selbst, seiner verstorbenen Frau und ihrem Ego; dargestellt jeweils von einem Duo aus Schauspieler und Tänzer, die sich meist synchron im Takt der Musik bewegen, als seien sie durch einen dünnen Faden miteinander verbunden.
Schließlich kommen die griechische Schicksalsgöttin Moira und deren Helferinnen ins Spiel - hier Lichtwesen genannt. Doch was wollen sie? Wohin nehmen sie die Tote mit? Und wie findet sich hier der christliche Ansatz der Auferstehung wieder? "Diese Frage bleibt offen; weil jeder dazu einen anderen Bezug hat, wollen wir das nicht vorgeben", erklärt die Choreografin Marita Erxleben. Gleichwohl habe sie die Hoffnung, dass nach dem Tod nicht etwa nichts komme. "Da gibt es etwas", sagt sie. Benennen kann sie es nicht.
Ganz anders ist das bei Olaf Ihlefeldt, dem Leiter des Friedhofes. Nach seiner christlichen Überzeugung entspricht die Verwandlungsmythologie der Auferstehung. "Ich als Christ empfinde es als Luxus, keine Angst vor dem Tod zu haben." Dieses Thema hier künstlerisch umzusetzen, sieht er demzufolge als eine Art Verkündigung des Evangeliums. Doch auf einem Friedhof? Ist es gestattet, hier zu tanzen, Gedichte vorzutragen, womöglich Beifall zu klatschen?
"Dezent", stellt er voran, "ja, auf unaufdringliche Weise." Es gebe einen Tabubereich. So tanze zum Beispiel niemand auf Gräbern; aus Respekt vor den Toten. Der Urnenhain, der als Kulisse dient, mit einem verzierten Schöpfbrunnen in der Mitte, ist im Grunde eine Wiesenfläche. Die Ruhefristen der Gräber hier seien längst abgelaufen.
"Solche Inszenierungen erlauben uns, die Sprache eines Friedhofes zu übersetzen", erzählt er. Denn wir verstünden diese heute oft nicht mehr. Er wünsche sich aber, dass die Menschen wieder mehr und gern auf einen Friedhof gehen. Leben, Sterben, Tod und Auferstehung – von diesem Verwandlungsprozess erzählten die Gräber. So ist es nicht das erste Mal, dass Olaf Ihlefeldt auf seinem Friedhof ein außergewöhnliches Kulturprojekt startet. Mit Kunst will er die Menschen erreichen, bei ihnen das Bewusstsein für den Friedhof als kulturhistorisches Kleinod schärfen.
Der Südwestkirchhof in Stahnsdorf zählt aufgrund seiner zahlreichen Denkmäler der Bestattungskunst und der im Stil einer norwegischen Stabkirche erbauten Friedhofskapelle europaweit zu den herausragenden Begräbnisstätten. Mit einer Fläche von rund 200 Hektar ist er einer der größten Waldfriedhöfe. Hier haben Persönlichkeiten wie Heinrich Zille, Engelbert Humperdinck, Friedrich Wilhelm Murnau und Werner von Siemens ihre letzte Ruhestätte gefunden. Und weil viele der kunsthistorisch wertvollen Mausoleen und Grabmale vom Verfall bedroht sind, kommt der Erlös dieser Veranstaltung dem Denkmalerhalt des Friedhofes zugute.
Anfängliche Scheu der Tänzer weicht schnell
Einmal auf einem Friedhof live aufzutreten, das ist für den Tänzer Philipp Krüger, der eine der Hauptrollen hat, neu. Er sei anfangs unsicher gewesen. "Ich wusste nicht genau, wo ich hintreten darf." Doch mit der Zeit habe er die Scheu abgelegt, für sich sogar etwas Einzigartiges entdeckt. Denn diese besondere authentische Atmosphäre eines Friedhofes könne man nicht auf einer Bühne im Theater erzeugen.
Und so tanzen sie durch den Urnenhain - Philipp Krüger und seine Partnerin. Zunächst leicht und beschwingt. Doch mit der Zeit: er will sie halten, aber sie entgleitet ihm mehr und mehr. Sein Schmerz scheint unerträglich. Er krümmt sich, fällt in sich zusammen. Ihr Tod ist unausweichlich. Auch sie gesteht, die Schauspielerin Nina Gummich, die die verstorbene Frau spielt: "Ich habe Angst vor dem Tod, glaube aber, dass die Seele erhalten bleibt und irgendwo wieder auftaucht." Das sei doch eine schöne Vorstellung, oder? Nur der Weg dahin, das Sterben, bereite ihr Sorgen. Und je mehr sie darüber nachdenke, desto mehr nehme sie sich vor, etwas aus ihrem Leben zu machen.
Und so heißt es in dem Gedicht von Rainer Maria Rilke zum Schluss: "Noch ist die Welt voll Rollen, die wir spielen. Solang wir sorgen, ob wir auch gefielen, spielt auch der Tod, obwohl er nicht gefällt. Doch als du gingst, da brach in diese Bühne ein Streifen Wirklichkeit durch jenen Spalt durch den du hingingst… () …aber dein von uns entferntes, aus unserm Stück entrücktes Dasein kann uns manchmal überkommen, wie ein Wissen von jener Wirklichkeit sich niedersenkend, so dass wir eine Weile hingerissen das Leben spielen, nicht an Beifall denkend...".