Feierlich schreitet ein junger farbiger Mann durch den Mittelgang der Wittenberger Stadtkirche St. Marien auf den Reformationsaltar zu, den der berühmte Maler Lucas Cranach der Ältere entworfen hat. Sein Blick ist nach vorne gerichtet, die Schultern schraff zurückgenommen und in Händen hält er eine große, kunstvoll verzierte aufgeschlagene Bibel. Ihm folgen, Seite an Seite, hohe Vertreter der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen, des Lutherischen Weltbundes, der Evangelischen Kirche in Deutschland, der römisch-katholischen Kirche, der Orthodoxen, der Mennoniten und des Weltrats Methodistischer Kirchen. Schon dieser Einzug in die ehemalige Predigtkirche Martin Luthers hat Symbolkraft: Seht her, wir gehen diesen Weg gemeinsam, Seite an Seite, und wir folgen alle der Bibel nach, die uns den Weg weist.
Doch obwohl diese Zeremonie der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen gilt, ist es ein anderer Mann, der zuerst ans Mikrophon tritt: Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland. "Dieser ökumenische Gottesdienst ist ein besonderes Ereignis im Reformationsjubiläum. Was wir heute hier erleben, ist ein historischer Moment", sagt er und lässt seinen Blick über die gefüllten Kirchenreihen schweifen. In den ersten Reihen sitzen die offiziellen religiösen Vertreter und die am Gottesdienst Mitwirkendenden, dann folgenden hunderte Teilnehmer der Generalversammlung und auf den Oberrängen dominieren die roten T-Shirts, die die Jugendlichen aus aller Welt als Helfer der Generalversammlung ausweisen. Bedford-Strohm fährt fort, dass dieser Tag auch für ihn persönlich ein großes Ereignis sei. "Wir zeigen Einigkeit in einer zutiefst zerrissenen und geteilten Welt. Wir zeigen, dass es möglich ist. Und ich danke Gott für diesen wundervollen Tag."
Auch Jerry Pillay, der Präsident der der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen, gibt zu, dass er die Größe und Bedeutung dieses Tages noch nicht richtig begreifen könne. Eines sei aber sicher:
"Gott lächelt heute auf uns herab und erfreut sich an unserem Streben nach Einigkeit." Dass das nicht nur leere Worte sind, sondern dass die Menschen in der Kirche sie tatsächlich mit Leben füllen und daran glauben möchten, spürt man während des Liedes "We celebrate the Unity of the Spirit": Aus vollen Kehlen erschallt der Text, die Gottesdienstbesucher, bewegen sich, wippen, klatschen. Es spielt keine Rolle, dass die meisten Schwierigkeiten mit den Französischen und Spanischen Zeilen des Liedes haben – es geht um die Einigkeit und die Stimmung, die durch die Musik transportiert wird. Nach dem Bekenntnis und der Klage, die sich vor allem mit den spaltenden Auswirkungen der Reformation beschäftigen, kommt es zum Friedensgruß, während das Orchester aus Kolumbien spielt. Banknachbarn reichen sich die Hände zum Friedensgruß aus Samuel, 20,42 und sagen: "Der Herr sei Zeuge zwischen dir und mir in Ewigkeit." Ein wildes Gewusel bricht aus, jeder möchte jedem in seiner Nähe die Hand reichen, auf Englisch, Französisch, Spanisch, Koreanisch, Deutsch und in noch viel mehr Sprachen liegen die versöhnenden Worte in der Luft. Heinrich Bedford-Strohm steht auf, um nicht nur seinen geistlichen Kollegen direkt neben ihm diese Worte zu sagen, sondern auch den Besuchern des Gottesdienst.
Der erste Höhepunkt des Gottesdiensts ist die Predigt von Pfarrerin Najla Kassab Abou Sawan von der National Evangelical Synod of Syria and Lebanon. Statt vorm Altar zu predigen, ist sie auf Martin Luthers Kanzel gestiegen, die weiter in der Mitte der Kirche steht.
"Hier stehe ich", sagt sie und winkt, weil viele ihren Blick noch erwartungsvoll nach vorne auf den Altarraum gerichtet hatten. Die Besucher lachen, ist die Anspielung auf das berühmte Luther-Zitat doch offensichtlich. "Hier stehe ich, eine Frau aus dem Nahen Osten, auf der Kanzel von Luther. Hätte Luther sich das nur vorgestellt, wäre dies vielleicht seine 96. Frage an die Kirche gewesen. Nicht, warum eine Frau auf der Kanzel steht, sondern warum es so lange gedauert hat?", ruft sie energisch und das Publikum reagiert mit tosenden Applaus. Die Frage der Frauenordination und der Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern bewegt die Teilnehmer der Generalversammlung Reformierter Kirchen – haben sie doch nur einen Tag zuvor beschlossen, dass die weltweit 223 Mitgliedskirche bis 2024 auf die Ordination von Frauen hinarbeiten sollen und es bis dahin eine 50 Prozent Quote für Frauen im Exekutivausschuss und unter den leitenden Mitarbeitern der Weltgemeinschaft geben soll. Das ist zwar kein bindender Befehl, da die Reformierten hierarchische Anweisungen ablehnen, aber doch eine starke Empfehlung.
Pfarrerin Najla Kassab Abou Sawan erinnert in ihrer Predigt daran, dass es Aufgabe der Kirchen und der Gläubigen ist, sich gegen alles zu stellen, "was Menschen entwürdigt und sie arm bleiben lässt, ohne Zuhause und Würde". Die Kirche sei zur steten Rechenschaft und Reformation berufen und sie müsse alles versuchen, um aus dieser Welt in Zukunft eine Welt zu formen, in der Recht, Frieden und Versöhnung vorherrschen. "Und wenn wir gefragt werden, was wir hier tun, dann unterzeichnen wir nicht einfach ein Zeugnis, sondern wir bauen zusammen an Gottes Gebäude", so Najla Kassab Abou Sawan.
Nach der Predigt kommt es dann endlich zu den langersehnten symbolischen Akten der Ökumene auf der Weltebene: Als erstes unterschreiben Chris Ferguson, Generalsekretär der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen, und Martin Junge, Generalsekretär des Lutherischen Weltbundes, das "Wittenberger Zeugnis". Es ist vollbracht: Beide Männer umarmen sich unter dem Jubel der Anwesenden. "Wir wollten unseren reformiert-lutherischen Dialog in die Öffentlichkeit bringen und ein sichtbares Zeichen der Einigkeit der Kirche und der Christen in der Welt setzen", so Jerry Pillay, der Präsident der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen in der anschließenden Pressekonferenz. Das "Wittenberger Zeugnis" ist eine Vereinbarung zur engeren Zusammenarbeit der Konfessionen: Beide Partner erkennen das große Unglück der Kirchentrennung an, heben die jahrzehntelangen Gespräche zwischen den beiden Konfessionen hervor und würdigen die Schritte zur Einheit, die die Mitgliedskirchen auf der ganzen Welt bereits unternommen haben. Gerade im Reformationsjahr ist die Unterzeichnung dieses Dokuments ein Zeichen, dass sich die Kirchen auch im Verhältnis zueinander immer wieder erneuern können. Und besonders für die Nicht-Europäer hat das "Wittenberger Zeugnis" tatsächlich Auswirkungen auf ihren kirchlichen Alltag, wenn es zum Beispiel um das gemeinsame Abendmahl geht.
Danach versammeln sich neben den Vertretern der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen und dem Lutherischen Weltbund auch der römisch-katholische Bischof Brian Farrell, Sekretär der Päpstlichen Rats für die Einheit der Christen, und Jong Chun Park, Präsident des Weltrats Methodistischer Kirchen, im Altarraum, um mit ihrer Unterschrift den Beitritt der Reformierten zur "Gemeinsamen Erklärung der Rechtfertigungslehre" zu bezeugen. Dieses Dokument gilt ursprünglich als bahnbrechende Annäherung zwischen der römisch-katholischen Kirche und dem Lutherischen Weltbund: Am 31. Oktober 1999 haben beide Seiten in Augsburg ihre gegenseitigen Lehrverurteilungen aus der Reformationszeit aufgehoben und sie als nicht mehr kirchentrennend bezeichnet. Man habe sich in vielen Jahren des ökumenischen Dialogs auf ein gemeinsames Verständnis der Rechtfertigung aus Gottes Gnade und durch den Glauben an Jesus Christus geeinigt. Die Rechtfertigungslehre geht davon aus, dass der Mensch trotz aller guten Taten niemals dem Anspruch genügen kann, den Gott an ihn oder sie stellt – man müsse stattdessen auf Gottes Gnade vertrauen.
Im Jahr 2006 schloss sich die methodistische Kirche mit ihren weltweit rund 75 Millionen Mitgliedern an und 2016 begrüßte und bestätigte der Anglikanische Konsultativrat inhaltlich die Gemeinsame Erklärung. Derzeit, so Martin Junge, Präsident des Lutherischen Weltbunds, gebe es Gespräche mit der anglikanischen Kirche über einen formellen Beitritt, so wie ihn die Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen an diesem Tag vollzogen hat. Als symbolträchtiges Datum für diese Unterschrift wird derzeit der 31. Oktober 2021 in London gehandelt. Durch den Beitritt der christlich-reformierten Kirchen zur "Gemeinsamen Erklärung der Rechtfertigungslehre" wird auch die Zusammengehörigkeit der unterschiedlichen reformatorischen Traditionen betont. Die Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen fügt der Erklärung eine eigene Stellungnahme an, die die Verbindung zwischen Rechtfertigung und Gerechtigkeit als besonderen reformierten Beitrag zu weiteren ökumenischen Gesprächen über die Rechtfertigungslehre betont. Für reformierte Christen gehört der Gedanke, ein von Gott gerechtfertigter Mensch zu sein, untrennbar mit dem Eintreten für Gerechtigkeit und gesellschaftliche Verantwortung zusammen.
"Heute ist ein Tag, an dem wir nicht in der Vergangenheit hängen geblieben sind, sondern einen Schritt in Richtung Zukunft gemacht haben", sagt Martin Junge in der anschließenden Pressekonferenz sichtlich stolz. Vor fünf Jahren sei die Zustimmung der Reformierten zur "Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre" noch undenkbar gewesen, doch es gebe einfach Dinge in Gottes Kalender, die dort ihren festen Platz hätten, aber im menschlichen Kalender noch nicht absehbar seien. Das im göttlichen Kalender in der Zukunft vielleicht auch noch andere Themen einen Platz haben könnten, deutet Bischof Farrell in der Pressekonferenz an: "Die "Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre" hat uns gezeigt: Wir sind gar nicht so weit voneinander entfernt wie gedacht. Und vielleicht hilft uns das ja dabei andere Bereiche zu sehen, in denen es ähnlich ist."
Nach einem gemeinsamen Mittagessen und dem Besuch der Weltausstellung Reformation fahren die rund 1.000 Teilnehmer der 26. Generalversammlung der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen wieder zurück nach Leipzig. Dort tagen sie bereits seit dem 29. Juli und beschäftigen sich mit Themen wie der Weltgerechtigkeit oder auch dem Konflikt zwischen Nord- und Südkorea. Die Wahl der Leipzig als Austragungsort des Kongresses hat vor allem für viele südkoreanische Teilnehmer eine ganz besondere Bedeutung: als Ausgangspunkt der friedlichen Revolution von 1989 und der folgenden Wiedervereinigung Deutschland sehen sie Parallelen zur Situation in ihrem eigenen Land. "Für mich war es berührend an der Stelle zu stehen, an der auch die Demonstranten vor Jahrzehnten für ein vereintes Deutschland und für die Freiheit gebetet haben. Es gibt mir die Hoffnung, dass das auch für meine Heimat möglich ist", erzählt die junge Südkoreanerin Ahee Kim, deren Großvater während des Korea-Kriegs aus Nordkorea geflüchtet ist.
Neben inhaltlichen Themen liegt ein besonderes Augenmerk der Generalversammlung auch darauf, den Teilnehmern musikalisch viel zu bieten. Für das Festkonzert in der Thomaskirche, die sonst das musikalische Zuhause des berühmten Thomaner-Chors ist, wurde extra der Nachbau einer Renaissance-Orgel, eine sogenannte Baldachin-Orgel, aus Weener (Ostfriesland) nach Leipzig gebracht.
Auf drei verschiedenen Orgeln beeindruckten die Organisten Winfried Dahlke und David Timm das Publikum mit Psalmvertonungen aus der Renaissance-Zeit und Jazz-Improvisationen. Besonders letztere kamen beim internationalen Publikum sehr gut an.
"Die klassischen Orgelstücke waren sehr schön, aber ich hätte niemals gedacht, dass man mit einer Orgel Jazz spielen kann – das war wirklich wahnsinnig gut", urteilte Clariana aus dem brasilianischen Sao Paolo. Auch andere Besucher schwärmten von den intensiven Klängen und der tollen Akustik der Thomaskirche.
Ein weiterer musikalischer Höhepunkt war die Uraufführung des Konzerts "Aus tiefer Not – Davids Psalmen weltweit neu erlebt" in der Nikolaikirche. Eigens für dieses Konzert wurden Klage- und Bitttexte aus vier Jahrhunderten und Erdteilen vertont, die im Wechsel mit den Psalmen Davids erklangen. "In diesem Wechsel von Klage und Zuversicht", so die Hoffnung der Veranstalter, "wird das Konzert selbst zum Psalm."
Auf musikalische Weise wurde zum Beispiel das Massaker von Gwangju im Mai 1980 in Südkorea thematisiert: damals war das Militär brutal gegen die Demonstranten der Demokratiebewegung vorgegangen. "Um Mitternacht marschierten Soldaten auf der Straße. Die gesamte Stadt wurde großräumig abgesperrt. Dann fielen Schüsse. In dieser Nacht floss das Blut wie Lava." Diese Beschreibung der Lyrikerinnen Jeong Hee Ko und Nam Ju Kim im Programmheft brachten die Zuschauer in die entsprechende Stimmung für diesen Abschnitt des Konzerts.
Die Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen trifft sich nur ungefähr alle sieben Jahre zur Generalversammlung, weshalb diese Treffen den Teilnehmern sowieso in Erinnerung bleiben werden. Aber auch in der Historie der Versammlungen wird diese Zusammenkunft ein Leipzig einen besonderen Platz einnehmen. Denn während dieser Generalversammlung wurde mit der Unterzeichnung der "Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre" und des "Wittenberger Zeugnis‘" Geschichte geschrieben. Und der Präsident des Weltrats Methodistischer Kirchen hat es auf den Punkt gebracht, als er sagte: "Neben Gott ist Martin Luther heute bestimmt der Glücklichste."