Foto: Lilith Becker/evangelisch.de
Christine Doll, Frank Müller und Gudrun Jordan helfen Geflüchteten.
Viele kleine Wirklichkeiten
Alle drei haben 2015 angefangen zu helfen. Es kostet sie Zeit, Nerven, manchmal Geld. Sie haben Bekannte verloren, Unverständnis in der Familie erfahren - doch auch neue Welten hinzugewonnen.

Christine Doll, Gudrun Jordan und Frank Müller - sie sind drei von diesen deutschen "Gutmenschen", die im Spätsommer 2015 unruhig auf dem Sofa die Fernsehbilder verfolgten, die einen überfüllten Bahnhof in Budapest zeigten, die Angela Merkel zeigten, die sagte, dass Deutschland diese Menschen aufnehmen solle, angesichts der drohenden humanitären Katastrophe. Sie sind drei von vielen, die das Gefühl hatten: Es verändert sich etwas in Deutschland, dass ich jetzt mitgestalten kann - und will. So blieben sie nicht auf ihrem Sofa sitzen, sondern gingen los.

Oder fuhren: Gudrun Jordan nahm ihr Fahrrad und radelte in Frankfurt-Sachsenhausen zu einer Aufnahmeeinrichtung. Sie fragte, ob sie helfen dürfe. Sie durfte. Gudrun Jordan begann Klamotten zu sortieren und sie an die Menschen zu verteilen, die neu nach Deutschland gekommen waren. Und heute, zwei Jahre danach, betreut sie eine afghanische Familie und bemüht sich um ein afghanisches Geschwisterpaar, von dem der Bruder gerade gegen seinen Ablehnungsbescheid klagt und die Schwester ein Bleiberecht für drei Jahre bekommen hat.

Die Familie wohnte in der Küche

Gudrun Jordan hat auch noch eine 60-Prozent-Stelle bei einem Reiseunternehmen, sie hat einen Mann, einen Haushalt und eigene Vorstellungen, wie sie ihre Freizeit gestalten will. Und obwohl sie ein für viele typisch ausgefülltes Leben hat, hat sie Verantwortung für Menschen übernommen. Auch, wenn sie die geflüchtete Familie, für die sie sich bemüht, "meine Familie" nennt. Natürlich könne sie nicht bei jeder Anfrage parat stehen. Diesen Anspruch an sich selbst abzulegen, hat sie inzwischen gelernt. Keiner kann alles für jeden machen.

Frank Müller und Christine Doll geht es ebenso wie Gudrun Jordan; auch sie haben gelernt vieles tun zu können, aber eben nicht alles. Die beiden begannen im Jahr 2015 in einer Turnhalle in Oberursel zu helfen, weil das Landratsamt dazu aufgerufen hatte. Frank Müller befüllte Generatoren mit Diesel und packte Erste-Hilfe-Pakete mit Lebensmitteln, ein paar Süßigkeiten, Medikamenten. Christine Doll unterrichtete Deutsch.

Im Frühjahr 2016 fanden Wahlen im Hoch-Taunus-Kreis statt. Die Notunterkunft in der Turnhalle Oberursel wurde deswegen geräumt. Die Menschen wurden in ganz Hessen verteilt, dorthin, wo Platz war. Es sei nicht vorteilhaft, dass man sofort wieder weg muss, wenn man sich gerade eingelebt habe, fanden Frank Müller und Christine Doll. Sie starteten eine Initiative, die sie "Back to Oberursel" nannten. Es brachte jedoch nichts. Ihre Schützlinge mussten bleiben, wo sie waren. Christine Doll war beispielsweise nicht einverstanden mit der Unterbringung einer Familie: Die Eltern mussten mit ihrer 13-jährigen Tochter in eine billig und notdürftig renovierte Wohnung ziehen, in der auch viele junge Männer leben. Dort wohnte die Familie in der Küche, hatte keine Privatsphäre.

Die drei wissen natürlich, dass es eine Herausforderung für die Behörden ist, so viele Menschen unterzubringen - auf Kultur und Nationalität Rücksicht zu nehmen, steht dann nicht an erster Stelle. Menschen zu integrieren ist komplex. Welche Aufgaben müssen übernommen werden und wer übernimmt sie? Schon beim auf die Toilette gehen kann es anfangen. "Einige haben sich in der Erstaufnahmeeinrichtung auf das Klo gestellt", erzählt Gudrun Jordan. "Wir haben Schilder aufgehängt, wie man in Deutschland die Toilette benutzt."

Ein großes Problem für viele Geflüchtete seien Verträge aller Art, die sie angedreht bekämen, sagt Frank Müller. Er hat schon mehrfach versucht, Verträge wieder zu lösen: Dabei geht es um Telefonverträge, ADAC-Mitgliedschaften und Versicherungen. "Und dann hat der- oder diejenige noch nicht mal ein Auto", sagt Frank Müller und schüttelt den Kopf.

Christine Doll, Gudrun Jordan, Frank Müller - die drei kannten sich vorher nicht, nun aber sind sie Vertraute, auch so etwas wie Leidensgenossen. Vertraute deshalb, weil sie sich gegenseitig auf dem Laufenden halten, sich Tipps geben und sich bei Menschen absprechen, um die sie sich gemeinsam kümmern. Einer begleitet den Geflüchteten, den sie einen Freund nennen, zum Termin bei der Arbeitsagentur, der andere geht mit ihm zum Anwalt. Sie haben sich vernetzt, um so viel wie möglich schultern zu können. Frank Müller spricht von "meinen Jungs". Christine Doll nennt sie, um deren Ankommen und Hiersein sie sich bemüht, "meine Freunde". Sie meinen es genauso. Denn für diese neuen Menschen im Leben haben sie einige andere Menschen auf Abstand bringen müssen.

Bomben, Drogen und Waffen

"Am Anfang sind alle noch interessiert gewesen", sagt Gudrun Jordan. Aber nach und nach habe das Unverständnis bei einigen überhandgenommen. "Ich hatte einen richtigen Zusammenbruch, dass manche, die meine Freunde sind, so gar nicht nachvollziehen konnten, warum ich mich engagiere." Darin sind die drei Leidensgenossen: Sie haben festgestellt, dass sie sogar bei Menschen, die ihnen nahestehen, auf Unverständnis stoßen, auf Ablehnung und gar nicht so selten auf Angst.

Christine Doll beispielsweise erzählt von einem Geflüchteten, einem Afghanen, der in Oberursel wohnt und Familie in Hamburg hat. Sie wollte eine Freundin in Hamburg besuchen und der Afghane fragte sie, ob sie ein Paket mit Süßigkeiten und kleinen Geschenken mitnehmen könne. "Na klar mache ich das. Sehr gerne." Für Christine Doll war das ein einfacher Freundschaftsdienst. Für eine Bekannte von Christine Doll, die zu Besuch bei ihr war und das Paket in der Küche stehen sah, war es eine abwegige, ja sogar gefährliche Idee. "Sie warnte mich, dass auch eine Bombe im Paket sein könnte." Oder Drogen. Oder Waffen. Sie könne das doch gar nicht wissen, sie solle das Paket lieber per Post schicken. "Das finde ich verrückt", sagt Christine Doll, "dass sie vermutete, etwas Gefährliches sei in dem Paket und dann soll ich den Paketdienst in Gefahr bringen?" 

Seit sich die drei für Geflüchtete engagieren, haben sie also ein paar langjährige Bekannte weniger. Und durchweg sagen sie, dass auch die Lebensgefährten häufig nicht übermäßig begeistert über das Engagement seien. "Wir wären entspannter, wenn wir an einem Strang ziehen würden", sagt Christine Doll. Das habe dann allerdings weniger mit der Angst als mit Zeit zu tun, erklärt Frank Müller. Seine Frau hadere manchmal mit den vielen Stunden, die er investiere. Obwohl er Rentner ist, arbeitet er selbstständig für sein kleines Unternehmen. Er spielt Tennis. Er hat Kinder. Und dann hat er noch diese Zusatztermine, die sich manchmal ergeben und manches Mal plötzlich sind. Auch zu unserem Gespräch kommt Frank Müller ein wenig später, weil er noch mit Ahmad beim Anwalt war. Der Afghane Ahmad klagt gegen seinen Ablehnungsbescheid, der ihn zurück nach Afghanistan schicken könnte. Frank Müller und Christine Doll helfen ihm dabei.

Und Christine Doll sagt, ihr Mann könne nicht immer nachvollziehen, warum sie die Menschen so häufig zu den Ämtern begleite. Sie aber hat festgestellt, dass die Menschen auf den Ämtern schneller helfen, wenn sie einen ihrer Schützlinge begleitet. "Es herrscht viel Überforderung in den Amtsstuben", sagt sie. Und wenn die Geflüchteten Post von einem Amt bekämen, sei es sogar manchmal für sie selbst schwierig herauszufinden, welche Bedeutung die Sätze im Juristendeutsch genau hätten, welche Konsequenzen und Forderungen sie beinhalten. Auch ins Krankenhaus hat Christine Doll schon einen Jungen begleitet, der eine Operation brauchte. "Es flutscht besser, wenn einer von uns dabei ist", sagt sie.

Bereut hat keiner von ihnen die Veränderungen, die die vergangenen zwei Jahre gebracht haben. Es sei, sagt Gudrun Jordan, wie neue Welten zu entdecken: viele kleine Wirklichkeiten in der eigenen Wirklichkeit.