Die Kugel trifft oberhalb des rechten Ohrs. "Bist du wahnsinnig, hier zu schießen?", herrscht ein Polizist seinen Kollegen Karl-Heinz-Kurras an. Neben ihnen liegt der Berliner Student Benno Ohnesorg auf dem Boden, ein dünner Faden Blut rinnt aus seinem Kopf. Seit knapp einer Woche sind der persische Schah Mohammed Reza Pahlavi und seine Gemahlin Farah Diba in Berlin zu Gast. Die Pahlavis sind nicht nur ein von der Boulevardpresse gefeiertes Ehepaar. Ihr Land ist eine brutale Diktatur.
Rund 800 bis 1.000 Menschen Demonstranten treffen sich daher am 2. Juni 1967, sie rufen "Schah, Schah, Scharlatan" und "Mörder, Mörder". Tomaten und Farbbeutel fliegen. Einer von ihnen ist der 26-jährige Romanistikstudent Benno Ohnesorg. Seine Frau ist gerade schwanger, er ist aktives Mitglied einer protestantischen Kirchengemeinde und die iranische Diktatur empört ihn. "Autonomie für die Teheraner Universität" malt er auf einen Kissenbezug und nimmt ihn mit auf die Demo vor der Oper. Er trägt Sandalen ohne Socken und ein rotes Hemd.
Gegen 20 Uhr verbreitet die Polizei die Nachricht, dass Protestierende einen Beamten erstochen hätten. Eine Falschmeldung. Doch die Polizisten zücken die Schlagstöcke und treiben die Menschen auseinander. In einem Hinterhof stellen sie eine Gruppe Fliehender, es gibt ein Gerangel. Dann fällt der Schuss. Der schwer verletzte Ohnesorg stirbt im Rettungswagen auf der Fahrt ins Krankenhaus Moabit.
Vertuschungsversuche der Polizei
Die Berliner Polizei versucht, die Umstände von Ohnesorgs Tod zu vertuschen. Sogar die Ärzte im Moabiter Krankenhaus machen mit. Sie nähen die Schusswunde an Ohnesorgs Leiche zu und geben dessen Todesursache mit "Schädelbasisbruch" an. Der Einsatzleiter der Polizei erklärt, er habe Kurras in jenem Hinterhof gar nicht gesehen.
Kurras selbst sagt im November 1967 vor Gericht aus, er sei von einer Meute mit Messern angegriffen worden, als sich ein Schuss aus seiner Pistole gelöst habe - "nur mit Zutun der mich bedrängenden Demonstranten". Obwohl nur einer von etwa 80 Zeugen seine Version bestätigt, spricht das Gericht Kurras vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung frei. Eine Anklage wegen Totschlags hatte es gar nicht erst zugelassen. Auch ein Revisionsverfahren endet 1970 mit einem Freispruch.
Der tödliche Schuss wird für die linke Studentenbewegung zum Fanal. Der Schah, der Vietnamkrieg, der Protest gegen alte Nazis in den Verwaltungen und Universitäten und die Kugel im Kopf Ohnesorgs - all das gerinnt zu einem wütenden Protest gegen die alte Ordnung. Die sogenannten 68er krempeln damit letztendlich die gesamte Gesellschaft der Bundesrepublik um.
Auch ganz radikale Töne werden laut. Noch in der Nacht zum 3. Juni schreit eine junge Frau während einer Versammlung des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds: "Wir müssen Widerstand organisieren! Gewalt kann nur mit Gewalt beantwortet werden." Diese Frau heißt Gudrun Ensslin und wird später zu einem der führenden Mitglieder der Terrororganisation Rote-Armee-Fraktion (RAF). Zum ersten Mal tritt diese Gruppe um Ensslin und Andreas Baader am 2. April 1968 in Erscheinung, als sie zwei Kaufhäuser in Frankfurt anzünden. Banküberfälle, Morde und Bombenanschläge folgen.
Schuss gibt der Studentenbewegung Schub
Eine andere Terrorgruppe, die Berliner "Bewegung 2. Juni", benennt sich sogar nach Ohnesorgs Todesdatum. Ralf Reinders, ehemals Mitglied dieser Bewegung, erklärt diese Namenswahl im Jahr 1995: "Dieses Datum wird immer darauf hinweisen, dass sie zuerst geschossen haben." Die "Bewegung 2. Juni" geht später in der RAF auf.
Jahrzehnte nach Ohnesorgs Tod kommt heraus: Der Schütze Kurras war Agent bei der ostdeutschen Staatssicherheit, Tarnname "Otto Bohl". Mitarbeiter der Behörde des Bundesbeauftragten für Stasi-Unterlagen (BStU) finden im Jahr 2009 dessen Akte.
Aber auch wenn der Schuss der Studentenbewegung Schub gibt: Das war wohl nicht die Absicht der Stasi, Kurras war kein Agent provocateur. Dennoch ist denkbar, dass er mit dem Schuss am 2. Juni 1967 im Auftrag des Ost-Geheimdienstes gehandelt hat, erläutert der Berliner Historiker Jochen Staadt: "Kurras wusste seit Januar 1967 von einem Überläufer, der in den Westen geflohen war." Dessen Name war Bernd Ohnesorge. Möglicherweise also glaubt Kurras an jenem Abend, diesen Überläufer vor sich zu haben. "Es ist denkbar, dass er den Namen Benno Ohnesorgs gehört oder in dessen Ausweis geschaut hat", sagt Staadt.
"Wer mich angreift, wird vernichtet."
Auch andere Gründe für den Schuss auf Ohnesorg sind denkbar: Mehrfach hatte sich Kurras im Kollegenkreis abfällig über jene geäußert, die auf der Straße gegen die bleierne Atmosphäre der konservativen Republik aufbegehrten. "Bei der deutschen Polizei fand man die Studenten ekelhaft", sagt Staadt, "das galt für Ost wie für West."
Protestieren gehörte sich für die Beamten eben nicht. Hinzu kommt: Sogar der Stasi war eine "charakterliche Schwäche" ihres Spions aufgefallen, wie es in einem Dossier heißt. Kurras sei "sehr verliebt in Waffen" und habe einen "übermäßigen Hang zum Uniformtragen".
Karl-Heinz Kurras stirbt Ende 2014. Anlass für Selbstkritik sieht er offenbar sein ganzes Leben lang nicht. "Ich hätte hinhalten sollen, dass die Fetzen geflogen wären, nicht nur einmal", sagte er in einem Interview im Jahr 2007. "Fünf, sechs Mal hätte ich hinhalten sollen. Wer mich angreift, wird vernichtet. Aus. Feierabend."