Sie haben Morddrohungen bekommen, weil Sie sich für ein Flüchtlingsheim in Tröglitz engagiert haben. Sie wohnen immer noch dort.
Markus Nierth: Die Morddrohungen waren das eine, das andere Schmerzliche war, dass wir bald als Nestbeschmutzer galten und somit mir und meiner Familie das Heimatgefühl genommen wurde. Vorher haben wir eng zusammengelebt mit den Menschen unseres Ortes, waren gefühlt in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Als ehrenamtlicher Ortsbürgermeister habe ich auch mit vielen zusammengearbeitet, versucht zu gestalten. Dass die Gleichen in der großen Mehrzahl weg waren, als es darum ging, sich zu positionieren, ob das die politisch Verantwortlichen oder der Ortschaftsrat waren oder soziale Autoritäten des Ortes, das war das Schmerzlichste. Das hat uns den Boden unter den Füßen weggerissen.
Sie sagen das "war" das Schmerzlichste. Wie geht es Ihnen jetzt?
Nierth: Wechselnd. Es ist tut immer noch weh. Wir arbeiten an den Folgen. Wir gucken: Wie viel Heimat bleibt übrig? Was ist die Perspektive überhaupt für diese Gegend? Haben wir uns in unserer Hoffnung getäuscht? Was ist realistisch? Reichen unsere innere Kraft und unser Glaube aus, den Menschen zu vergeben, auch wenn von der anderen Seite nichts kommt? Der Versöhnungsprozess ist leider bisher einseitig, das Schweigen der Mitte ist nach wie vor da, keiner äußert sich und sagt: 'Es tut mir leid, dass ich Euch damals allein gelassen habe'. Da muss man aufpassen, dass das eigene Herz nicht verbittert und dass man trotzdem vergibt, schon für sich selbst, um frei zu werden, frei zu bleiben. Und dann zu gucken: Was macht Heimat nun aus?
War denn wirklich keiner da, der wenigstens im Vertrauen zu Ihnen gesagt hat: 'Ich bewundere Eure Haltung?'
Nierth: Ein bis zwei Hände voll Menschen aus dem Ort von 2.800 Einwohnern haben sich vorsichtig positioniert, fünf davon deutlicher. Die Mehrzahl derjenigen, die sich solidarisiert haben, kam aber aus dem Umland. Sie haben sich bewusst zu uns gestellt, dass wir nicht mehr alleine die Zielscheibe sind. Die Strategie der Rechten ist: die wenigen Widerständler heraussuchen, sie diffamieren, isolieren, dann wirtschaftlich ächten und damit schädigen. Das haben sie auch geschafft, wir haben seitdem circa 30 Prozent weniger Einkommen in unserer Selbstständigkeit. Der Schaden ist geblieben; vor allem die Erfahrung, dass die so genannte Mitte, die Mehrheitsgesellschaft, die Menschen mit denen man Beziehungen hatte, geschwiegen hat. Wir haben oft überlegt wegzuziehen, uns aber entschieden vorerst zu bleiben.
Wenn Sie gingen, würden Sie das Feld den Rechten überlassen.
Nierth: Ich bin in einem evangelischen Pfarrhaus aufgewachsen. Als Jugendlicher habe ich Dietrich Bonhoeffer und Sophie Scholl verehrt. Ich hatte eine Wut und einen Hass auf das Dritte Reich. Ich habe mich immer gefragt, wie es sein konnte, dass die Menschen damals nicht aufgestanden sind? Oder wieso waren es so wenige? Warum haben die Meisten das System nicht durchschaut? Ich habe selbst in tollen, fetten, friedlichen Jahren gelebt und komme mit meiner Familie in eine Situation, in der ich reden muss, wenn ich nicht mein Herz, mein Gewissen und meinen Glauben verraten will. Ich habe zwar auch Sorgen und Ängste, aber die habe ich zurückzustellen, weil ich eine Verpflichtung habe, anderen Menschen liebevoll zu begegnen, seien es nun Deutschen oder Ausländer. Ich musste mich, gemeinsam mit meiner Frau, gegen diese Rechten stellen, die deshalb dann meine Familie bestrafen und einschüchtern wollten, indem sie einen Aufmarsch vor unserem Haus planten. Ganz zu schweigen vom Brand im geplanten Flüchtlingsheim, der dann folgte, dies musste als böse Tat klar benannt werden. Dadurch bin ich wieder viel politischer geworden.
"Die Angst, was mit jemand anderem passiert, wenn man nicht mehr da ist, die bleibt"
Motiviert Sie das weiterzumachen?
Nierth: Ein bisschen, aber es ist trotzdem ein Ringen. Bei mir persönlich ist es ein Glaubensringen: Wie weit reicht meine Kraft, meine Liebesfähigkeit, wie stark bekomme ich Nachschub von Gott? Ich hatte richtig Angst, von Anfang an, Angst, weil ich ahnte, was auf mich zukommt. Damals habe ich überlegt: Riskierst du das? Redest du? Du wirst wahrscheinlich vieles verlieren und echte Feindschaften bekommen. Meine Frau stammt aus Hamburg, sie ist viel klarer und herausfordernder als ich. Ich habe meine Ängste erstmal bei meinem Seelsorger aber auch im Gebet losgelassen, erst daraufhin habe ich beschlossen: "Ich werde kämpfen." Ich habe den Mund aufgemacht und das hat zu dieser Resonanz und dem Medienhype geführt. Einfach, weil ich Gottvertrauen hatte, weil ich es gewagt habe, meine Ängste zurückzustellen und zu sagen: Das ist nun meine Aufgabe und ich kann nicht schweigen. Das war ein harter, innerer Kampf, nicht Heldentum.
Ich kann mir vorstellen, dass ihr Kampf auch vor allem schwer war, weil Sie Kinder haben.
Nierth: Ja, wir wollten den 16. Geburtstag meiner Tochter feiern und wir mussten ihr an diesem Tag sagen, dass ich Morddrohungen bekommen habe. Wir saßen zusammen und unsere Tochter sagte: "Papa, es ist furchtbar. Aber wenn etwas passieren würde, wir wissen ja, dass wir einen festen Grund haben und dass wir uns auf jeden Fall wiedersehen." Das hat meiner Frau und mir die Tränen in die Augen getrieben, weil das nun für uns auch eine ganz andere Sicherheit war. Aber die Angst, was mit jemand anderem passiert, wenn man nicht mehr da ist, die bleibt.
"Da ist innerhalb der Gemeinde ein Riss, wo bei manchen die Ängste größer sind, als das Gottvertrauen und die Aufgabe den Nächsten zu lieben"
Hat ihr Vertrauen in den Staat Schaden genommen?
Nierth: Nein. Später haben wir Polizeischutz bekommen, so dass ich jetzt sagen kann: Die Polizei in Sachsen-Anhalt ist nicht auf dem rechten Auge blind.
Sie wurden auch so gut geschützt, weil sie mittlerweile so prominent sind, oder?
Nierth: Ja, das hat auch ein guter Bekannter und Aussteiger aus der rechten Szene zu mir gesagt, dass wir dadurch geschützt sind, weil Politik und Polizei nicht riskieren können, dass den Nierths noch etwas passiert. Sonst hätten die Rechten natürlich für einen Kasten Bier ihre Männer mit Baseballschläger vorbeigeschickt. Aber da die hohen Chargen der NPD, Hausdurchsuchungen befürchten und das LKA genau weiß wo ihre Pappenheimer wohnen, haben die sich gesagt: 'Lasst die Nierths jetzt in Ruhe, das ist viel zu heiß, die gehen immer an die Öffentlichkeit.' Für uns ist die Öffentlichkeit zum Schutz geworden. Und bis jetzt ist es Gott sei Dank ruhig. Wir können jedem Betroffenen nur raten, ebso an die Öffentlichkeit zu gehen.
Sie waren ehrenamtlicher Ortsteilbürgermeister und haben für das Gemeinwesen viel Zeit geopfert. Wie geht es Ihnen jetzt damit? Sie müssen sich auf eine Seite stellen.
Nierth: Eine Seite ist gut. Ich stehe im Ort mit meiner Familie ziemlich alleine.
Was ist mit den Leuten aus dem Friedensgebet, dass immer in der Kirche neben ihrem Haus stattfand?
Nierth: Es gab Gott sei Dank Christen aus dem Ort, die so ihre Solidarität gezeigt haben. Aber da ist innerhalb der Gemeinde ein Riss, wo bei manchen leider die Ängste größer sind, als das Gottvertrauen und die Aufgabe den Nächsten zu lieben. Der Pfarrer ist klar entschieden und hat die Idee meiner Frau aufgenommen, ein Friedensgebet zu starten, hat das tapfer und gut durchgeführt. Aber er ist für 20 Gemeinden zuständig und wohnt auch nicht vor Ort.
"Wir bräuchten eine Kultur, in der Schwachheit erlaubt ist, in der Fehler und Schuld nicht verdrängt werden"
Sprechen die Menschen im Ort noch mit Ihnen über schwierige Themen wie Flüchtlinge?
Nierth: Darüber wurde auch vorher schon nicht gesprochen. Schwierige Themen werden meist verdrängt, es gibt ein paar, die jetzt sagen: 'Wenn ich gewusst hätte, dass die Flüchtlinge so harmlos sind, dann wäre ich nicht mitmarschiert'. Aber es wird vor allem geschwiegen. Es gibt hier sieben Flüchtlingsfamilien, die keine Probleme machen, außer vielleicht mal mit dem Fahrrad auf der falschen Spur zu fahren. Beim Frühjahrsputz sind sie mit mehr Leuten beteiligt gewesen, als die Einheimischen, sie klauen nicht, tun den Frauen nichts, im Nachhinein ist alles eigentlich lächerlich.
Wie sollte ihre Kirche der Radikalisierung der Gesellschaft entgegentreten?
Nierth: Ich glaube, dass die Radikalisierung, und damit der Fremdenhass, ein tief verwurzeltes und in unserer Alltagskultur angelegtes Problem ist. Es ist kein Zufall, was passiert, sondern es ist die Frucht unseres seitJahrzehnten frei ausgelebten Zeitgeistes. Von einem "Du darfst", "Geiz ist geil" und "Ich-Zuerst" zu einem "Wir-Zuerst", "mein Volk zuerst", ist es gar nicht weit. Und der eigentliche Wert, der das Christentum ausmacht, wurde schon längst vergessen, das ist der Wert des Anderen. Das "Ich" wurde dafür narzisstisch auf den Altar gehoben.
Wir bräuchten eine Kultur, in der Schwachheit erlaubt ist, in der Fehler und Schuld nicht verdrängt werden, sondern ehrlich benannt und gut entsorgt werden. Eigentlich könnten wir Christen besonders ehrlich und offen als Vorbild vorangehen, weil unsere Existenz ganz anders abgesichert ist, weil wir doch zuerst die bedingungslose Liebe Gottes erleben können. Aber eben nicht als Scheinheilige oder Gesetzliche, sondern "als Sünder und Heilige" zugleich, nach Luther, indem wir als Christen offensiver, lebensechter und ehrlicher mit unserem eigenen Leben, dem Scheitern und Befreit-Werden umgehen, um so andere zu ermutigen. Vielleicht trauen wir uns das oft nicht, weil wir selbst innerlich kämpfen und an unseren Glaubenszweifeln leiden.
Wenn wir Christen aber lebensecht und ehrlich mit unserem Scheitern auch unserem Befreit werden umgehen, dann könnten wir andere ermutigen, auch mit ihrem inneren Scheitern gut umzugehen. Das ist doch die Hauptursache für die Abwehr des Fremden: mit sich selbst nicht ausgesöhnt zu sein. Und diesen inneren Frust dann nach außen zu tragen und zu projizieren.
Vorbilder müssen von den Leuten aber auch angenommen werden. Wer kann da mitmachen?
Nierth: Leute in der Politik und auch in der ganz normalen Gesellschaft müssten sich trauen, von ihren Ängsten, ihrem Schmerz und ihrer Trauer zu sprechen. Vieles Weiche wird in unserer Kultur aber leider oft als verweichlicht verdrängt. Ich wünsche mir eine neue Kultur der Barmherzigkeit. Andererseits: Ich bin jahrelang, typisch Theologe, zu weich und verständnisvoll mit allen Leuten umgegangen: Habe gesagt, man muss sie verstehen und abholen. Aber ich habe eine Lehre gezogen: Wir müssen auch klare, harte Kante gegenüber den Unbelehrbaren zeigen. Ich war bei Manchem viel zu lasch, ängstlich und harmoniebedürftig. Die Leute, die sich zum Destruktiven entschlossen haben, die Böses tun wollen, denen muss man sagen: "Nein,stopp! So nicht!" Das ist wie mit Pubertierenden. Wenn die völlig ausrasten und einen anbrüllen und die Grenzen nicht mehr erkennen, dann sage ich: "Stopp, so nicht! Ich bin theoretisch bereit mit dir zu reden, aber so nicht!". Diese Menschen müssten auch emotional wahrnehmbar von der Mehrheitsgesellschaft ausgegrenzt werden.
Um zu zeigen, dass sie weniger sind?
Nierth: Es ist ja gerade auch in den laut Schreienden eine Ursehnsucht nach Liebe, nach Gemeinschaft und Anerkennung. Um Radikalisierte aus ihrer Rolle herauszuholen, ist es nicht angebracht, diese Leute als Opfer zu verstehen und weich zu behandeln. Die Psychologie lehrt uns: man soll rechtsradikale Täter ganz klar mit ihren bösen Taten und ihren Folgen für andere Menschen konfrontieren. Das ist die einzige Möglichkeit, dass sie aufbrechen, in sich zerbrechen und das lernen, was ihnen fehlt: Empathie.
"Viele Menschen spüren, dass sie nichts wert sind, weil sie nicht genug leisten"
Einige Menschen verstehen nur das, was sie auch verstehen wollen.
Nierth: Die Voraussetzungen für Demokratie werden nicht geschaffen, wenn man die Persönlichkeitsbildung weiter außer Acht lässt. Ich war so frustriert von der DDR, weil da die Menschen in ihrer Individualität und Persönlichkeit zermahlen wurden. Erschreckend ist: Das erlebe ich jetzt an den Schulen meiner Töchter ähnlich, dass nicht eigenständige Persönlichkeit und Kreativität und politische Diskussionsfähigkeit gefragt sind, sondern eher verhindert werden, weil die Kinder funktionieren sollen, auf Erfolg, Konsum und Leistung getrimmt und mit möglichst viel Stoff abgefüllt werden.
So entstehen teils in der nächsten Generation wieder angepasste, in sich unfreie Bürger, die aus sich selbst heraus nur noch schwer den Mut und die Kraft zu mündigem Mitgestalten ihrer Demokratie finden. Um so dringender ist unsere Aufgabe als Eltern, unsere Kinder bedingungslos zu lieben, aufzufangen und den Druck rauszunehmen.
So wie wichtig wäre, dass wir den Abgehängten in unserer Gesellschaft, unabhängig von Leistung oder Erfolg im Beruf, ihren Wert zurückgeben könnten. Aber viele Menschen spüren, dass sie nichts wert sind, weil sie nicht genug leisten. Und noch mehr Menschen ahnen, dass auch sie bald "weniger wert" sind, weil die digitale Revolution ihren Berufsstand hinwegfegen wird, egal wie qualifiziert sie sind. Da muss dringend ein gesellschaftliches Umdenken einsetzen, das wieder auf den eigentlichen Wert des "christlichen Abendlandes" setzt, in dem der Andere mindestens so viel wert ist wie ich selbst, indem wir eine neue Kultur der Barmherzigkeit einüben, mit uns selbst und dem Anderen.