Warum uns das 2017 wichtig war: Anette Schultner ist seit Oktober 2017 kein Mitglied der AfD mehr. "Ich bin nicht bereit, eine Feigenblattfunktion zu erfüllen", hat sie zur Begründung in einem Interview mit dem Tagesspiegel gesagt. Als ich die Meldung las, sie sei ausgetreten, habe ich mich sehr gefreut. Denn ihr Austritt steht für mich für eine Aufweichung unserer extremen gesellschaftlichen Pole, die sich in den vergangenen vier Jahren (ich rechne ab PEGIDA, das ich anfangs für einen schlechten Scherz gehalten hatte) aufgebaut haben.
Nachdem ich Schultner während der Diskussion auf dem Kirchentag in Berlin erlebt hatte, war ich eigentlich schon sicher: ewig bleibt sie nicht in dieser Partei. Denn auch wenn ich nicht alle ihre Positionen teile, hat mich beeindruckt und beruhigt, dass sich Anette Schultner der Diskussion gestellt hat. Sie hat ihre Argumente vorgebracht, sie hat die Argumente der anderen gehört und sie war so ehrlich zuzugeben, wenn sie von etwas keine Kenntnisse hatte. Schultner war keine Populistin, sie war nicht schnippisch und blieb nicht in zugespitzten Plattitüden hängen. Herzlichen Glückwunsch, Anette Schultner, dass Sie den Weg aus dieser Partei gefunden haben. Ich hoffe, dass sie einen besseren Ort für ihr Engagement finden! - Lilith Becker, Redakteurin bei evangelisch.de
Dieser Artikel wurde erstmals am 25.05.2017 veröffentlicht
Nicht alle, die wollten, konnten an der Diskussion zwischen Anette Schultner, der Vorsitzenden der Christen in der AfD, Landesbischof Markus Dröge und Publizistin Liane Bednarz teilnehmen. Einige standen im Hof der Kirche herum, ohne Einlass zu finden. Andere wollten hingegen gar nicht erst hinein. 15 Minuten vor der Veranstaltung übergaben die Vertreter der Initiative "Kein Publikum für die AfD" ihre Online-Petition gegen den Auftritt der Partei auf dem Kirchentag. Der Programmverantwortliche des Kirchentags Mario Zeißig nahm die Petition mit 1.630 Unterschriften entgegen. Wären es 2.000 Unterschriften gewesen, hätte die Diskussion tatsächlich abgesagt werden können. So fand sie statt.
Vor der Kirche verteilten eine Handvoll Menschen Flyer, manche für und manche gegen den Auftritt der Alternative für Deutschland (AfD). Ein paar andere gaben Poster mit der Barmer Theologischen Erklärung gegen eine Spende heraus. Ein Mann benutzte seine Hände als Trichter, um laut gegen die AfD zu rufen: "Ich bin Berliner, ich möchte nicht, dass man diesen Rassisten in meiner Stadt ein Forum gibt." Ein Vater mit Kind stritt sich laut mit einem AfD-Anhänger, der Flyer verteilte. Die in einem Mannschaftsbus angereisten Polizisten mussten jedoch nicht eingreifen.
Auch während der Diskussion ging es hart aber fair zu, jedenfalls verglichen mit Talkshow-Runden im Fernsehen, in denen Vertreter der AfD zu Gast sind. Zu Beginn tauschten sich die drei Diskutanten über ihr christliches Menschenbild aus. "Jeder Mensch ist wertvoll und von Gott gewollt", sagte AfD-Frau Anette Schultner, aber dann: "Jedoch zeigt auch die Bibel, dass nicht jeder Mensch in jedem Staat machen kann, was er will. Und einfach kommen darf. Auch in der Bibel sind viele auf Durchreise."
Der Berliner Landesbischof Dröge entgegnete, dass sich Christen für einen Staat einsetzten, in dem jeder leben darf. Vereinzelt unterbrachen Rufer die Diskussion mit "Nazis raus", oder AfD-Sympathisanten äußerten ihren Unmut über Positionen des Bischofs und der Publizistin Bednarz. "We shall overcome" sang ein Chor im hinteren Teil der Kirche, ließ sich jedoch von den Ordnungskräften hinausgeleiten. Ein Ordner schützte die Steckdosen der Technik, nachdem Besucher gehört hatten, wie einer der Sänger beim Hinausgehen sagte: "Wir müssen hier den Stecker ziehen."
Moderatorin und Diskutanten rissen viele Themen an, keines wurde jedoch ausdiskutiert: Es ging um Einwanderung und Geflüchtete, ob sie unsere Nächsten (Bischof) oder Fernsten (Schultner) seien, die unter das Gebot "der Nächstenliebe dann nicht fallen", sagte Anette Schultner. "Die Kirchen wollen alle am liebsten hierher holen", behauptete Schultner, worauf Dröge direkt widersprach, dass er als Aufsichtratsvorsitzender von Brot für die Welt und des Evangelischen Entwicklungsdienstes (eed) sehr wohl sehe, dass die Kirche sich um die Beseitigung von Fluchtursachen bemühe.
Es ging um Abtreibungen, gegen die sich sowohl Bednarz als auch Schultner stellten. Es ging um die Unterscheidung zwischen Islam und dem radikalen Islamismus. Ausgehend vom Grundsatzprogramm der AfD fragte Liane Bednarz auch zum Verbot des Schächtens nach, das die AfD fordert: "Wenn die AfD sowohl das Schächten als auch den Import geschächteten Fleisches verbieten will, wie sollen Juden dann hier noch leben können?" Schultner antwortete, den Import zu genehmigen, fände sie inkonsequent. Der Konter von Bednarz: "Also finden Sie, Tiere sollen in Deutschland leben dürfen, gläubige Juden aber nicht?" Die Information aus dem AfD-Programm, dass das Schächten und der Import solchen Fleisches in Dänemark und Polen verboten sei, sei zudem falsch, sagte Bednarz: "Desinformation und Antisemitismus in einem, wie stehen Sie dazu, Frau Schultner?" Eine Antwort blieb die Vorsitzende der Christen in der AfD in diesem Fall schuldig.
Eine längere Diskussion entspann sich zu Ende der Veranstaltung um das Thema Angst und den Kern des Christentums. Die AfD sei eine Partei, die "Ängste schürt, Misstrauen sät und Ausgrenzung predigt", sagte Dröge. Für ihn passe das nicht mit dem Kern der Botschaft des Christentums zusammen, den er in der Bergpredigt lese: "Wie befreien wir den Menschen zur Verantwortung?" Natürlich hätten die Menschen Ängste, die man jedoch nicht ernst nehme, indem man sie bestärke, sondern nur indem man Lösungen anbiete. Sowohl Bischof Dröge als auch die Publizistin Liane Bednarz beschrieben damit das zentrale Problem, dass sie mit der AfD haben: Das Schüren von Angst und Fremdenfeindlichkeit. "Die AfD verknüpft in ihrem Grundsatzprogramm den demografischen Wandel, Abtreibungen und Masseneinwanderung", sagte Liane Bednarz (und bezog sich dabei auf das AfD-Wahlprogramm Punkt 6.2: "Mehr Kinder statt Masseneinwanderung"). "Sie fordern eine Minuszuwanderung, also eine Remigration. Ist das euphemistisch für 'Ausländer raus'?" fragte Bednarz. "Wir wollen Deutsche sein und bleiben", antwortete Schultner. Es gehe ihr darum, dass sich die Partei zu einem abendländisch-christlichen Menschenbild verpflichte. Was das konkret bedeutet, da wurden sich Bischof, Publizistin und AfD-Vertreterin bis zum Ende nicht einig.
Ein junger Mann stieg zu Ende der Diskussion auf die Kanzel und hängte ein T-Shirt mit dem Aufdruck "Kein Mensch ist illegal" auf. Laut versuchte er Stellung zu nehmen, sein Rufen ging jedoch im Klatschen und Reden des Schlusses der Veranstaltung unter. Bei allen Unterschieden: Bemerkenswert war, dass sich die drei Gäste auf dem Podium in zwei Stunden konzentrierter Diskussion nicht ein einziges Mal ins Wort fielen.