Beim Wandern kommen gute Gedanken. Das fand auch Bernd Rausch. Der Beamte machte sich nach seiner Pensionierung mit dem Rucksack 420 Kilometer auf den Weg. Er wanderte vom heimatlichen Romrod im Vogelsbergkreis nach Kempten im Allgäu. Am Zielort schwärmten ihm Gastgeber vom Pilgern auf dem Jakobsweg vor. Diese Eindrücke blieben haften. Als Rausch auf die Lutherdekade der Evangelischen Kirche in Deutschland zum 500. Reformationsjubiläum 2017 stieß, verband er die Eindrücke mit einem Einfall.
"Pilgerwege wollen eine historische Wegstrecke mit einem historischen Ereignis verbinden", erklärt Rausch. Ein solches Ereignis, das bis heute Vorbild sein könne, sei der Auftritt Martin Luthers (1483-1546) vor Kaiser Karl V. auf dem Reichstag zu Worms 1521 gewesen. Der Reformator verweigerte den geforderten Widerruf seiner Überzeugungen. "Luther hatte sich auf den Weg gemacht, obwohl er nicht wusste, ob er den Tag überleben würde", sagt Rausch. "Er war mutig, für seine Meinung einzustehen."
Rausch stellte einer Freundesrunde seine Idee eines "Lutherwegs 1521" vor, der der historischen Route des Reformators von Worms zur Wartburg bei Eisenach folgt. Die Idee zog Kreise: 2012 wurde der Verein "Lutherweg in Hessen" mit Sitz in Romrod gegründet, 2014 begannen die Ausschreibungen für Schilder, Informationstafeln und Rastplätze, und am Sonntag wird nun der neue Pilgerweg in Romrod feierlich eröffnet.
Wanderer und Radfahrer werden die rund 400 Kilometer von Worms zur Wartburg geleitet, ein weißes Schild mit einem grünen "L" und dem Zusatz "Lutherweg 1521" führt sie zum Ziel. Dabei sei der historische Weg von Luthers Pferdekutsche nicht in allen Einzelheiten bekannt, räumt Rausch ein. Der Reformator sei der alten Handelsstraße durch Hessen gefolgt. Der jetzt ausgeschilderte "Lutherweg 1521" folge dieser Route in einem Korridor von einem Kilometer Breite.
Der "Lutherweg 1521" erweitert das Netz an Lutherwegen, das seit Eröffnung der Lutherdekade 2008 schrittweise die Wirkstätten des Reformators in Sachsen-Anhalt, Sachsen, Thüringen und Oberfranken verbunden hat, auf insgesamt rund 3.000 Kilometer Länge. "Mit dem Lutherweg 1521 ist die Entwicklung abgeschlossen", sagt der Vizepräsident der Deutschen Lutherweg-Gesellschaft, Christian Otto. In Zukunft sei vielleicht noch eine Verlängerung von Coburg über Nürnberg nach Augsburg denkbar, um an wichtige Orte der Reformation zu erinnern, an denen Luther selbst nicht war.
Der Verein der in Nachbarschaft verlaufenden Bonifatius-Route von Mainz nach Fulda sieht den neuen Lutherweg nicht als Konkurrenz. "Wir bewerben uns gegenseitig", sagt der stellvertretende Vorsitzende, der evangelische Ortenberger Pfarrer Kurt Racky. "Pilger gehen einen Weg in der Regel einmal, dann suchen sie nach einer anderen Route." 1.600 bis 2.000 Menschen gingen jährlich auf dem Bonifatiusweg Tages- oder mehrtägige Etappen.
Eine Ironie der Geschichte sei, dass ein Pilgerweg "Lutherweg" genannt werde, sagt der Mainzer Theologieprofessor Kristian Fechtner. Luther habe das Pilger- und Wallfahrtswesen abgelehnt, weil er die damalige Bußübung als "Werkgerechtigkeit" bezeichnete. Sündenvergebung könne man sich nicht erlaufen, sondern nur im Glauben als Gottes Geschenk annehmen. Daher sei das Gehen auf dem Lutherweg auch keine Wallfahrt, sondern habe den Sinn, "den äußeren Weg als inneren Weg Luthers nachzugehen".
Das Pilgern habe gegenwärtig Konjunktur, erklärt Fechtner. Auf die Frage vieler, "wie komme ich aus dem Alltag heraus?", stelle das Pilgern eine attraktive Form der Auszeit dar. Es setze keine Glaubensgewissheiten voraus, eröffne aber einen Raum, die Welt anders zu sehen. Das Pilgern ermögliche "Religion auf Zeit" und führe zu keinen dauerhaften Pflichten. Gerade Männer würden von der körperlichen Anstrengung des Pilgerns angesprochen.
"Keinen Tag steht das Telefon still", berichtet Rausch als stellvertretender Vorsitzender des Vereins "Lutherweg in Hessen". Ständig fragten Interessenten nach Pilgerausweisen, Stempelstellen, Führern und Herbergen, Kirchengemeinden erkundigten sich nach Pilgergruppen. Mit der Vollendung der Beschilderung soll sich nun ein Fall wie der des Wanderers, der sich bei Romrod im Wald verlief und abends von einem Jogger gefunden und herausgeleitet wurde, nicht wiederholen. "Selbst dieser hat noch ein warmes Bett bekommen", beruhigt Rausch.