Glitzernde, mit Perlen und Pailletten bestickte Kleider, bodenlang, dazu aufwendige Frisuren und lachende Frauengesichter. Auf ihrem Handy zeigt Reyhane Heidari, 24, Bilder aus ihrer Vergangenheit, aus einem anderen Leben, damals im Iran, wo die Afghanin ihre Kindheit und Jugend verbrachte. "Ich bin mit einer Nähmaschine aufgewachsen", sagt die junge Frau, die ihr Haar mit einem zartrosafarbenen Kopftuch bedeckt. "Mein Vater war Schneider, schon mit sieben Jahren nähte ich das erste Kleid für meine Puppe." Zehn Jahre später eröffnete sie ihre eigene Schneiderei, fertigte überwiegend Frauenkleidung an, darunter die aufwendigen Abendroben auf den Bildern.
Auch heute näht Reyhane ein Kleid. Während vor dem Fenster tief hängende, graue Wolken Regen ankündigen, schneidet die zierliche Frau einen hellblauen und mit bunten Blumen bedruckten Stoff zurecht. Seit einem guten halben Jahr arbeitet sie in der Schneiderwerkstatt Stitch by Stitch im Frankfurter Nordend. Vollzeit, für 10,50 Euro brutto die Stunde. Das Team besteht aus sieben Frauen, drei von ihnen mussten wie die junge Afghanin aus ihrem Heimatland flüchten. Der Job mache ihr viel Spaß, sagt sie, "und Frau Nici und Frau Claudia sind sehr nette Chefinnen."
"Und Reyhane ist eine Topschneiderin!", da sind sich die Kommunikationsdesignerin Nicole von Alvensleben, 48, die alle Nici nenne, und die Modedesignerin Claudia Frick, 44, einig.
Nicht mal zwei Jahre ist es her, da trafen sich die beiden Frauen zufällig in der Küche eines Ateliers, in dem damals beide freiberuflich arbeiteten. Das war in jenem geschichtsträchtigen Sommer, als hunderttausende Menschen aus den Kriegs- und Krisengebieten dieser Welt nach Deutschland strömten. Aus dem Gespräch entstand eine Idee: Sie wollten eine Schneiderwerkstatt gründen, die geflüchteten Frauen die Ankunft auf dem deutschen Arbeitsmarkt erleichtert und ihre Integration fördert.
"Klar fährt man auch mal was gegen die Wand."
Als Auftraggeber hatten die beiden Frankfurterinnen junge Modelabels im Blick. "Wenn sie ihre Kollektionen lokal, nachhaltig und noch dazu in kleiner Stückzahl produzieren lassen wollen, stehen sie in Deutschland vor einer großen Herausforderung", sagt Nicole.
Es gebe hierzulande nur wenige Schneider und deren Preise seien für junge Labels fast nicht zu zahlen. "Da gibt es zwei Bedarfsfelder und die wollten wir zusammenbringen, eine Win-Win-Situation schaffen." Überzeugt von ihrer Idee bewarben sie sich für ein Stipendium der KfW Stiftung, nahmen einen Mikrokredit auf und gründeten wenige Monate später Stitch by Stitch – ein Sozialunternehmen, in dem traditionelle Stick- und Nähtechniken aus den Heimatländern der Schneiderinnen auf deutsches Design treffen sollten.
So der Plan. "Doch wer zu uns kommen würde, wussten wir natürlich nicht", sagt Claudia. Bilder von verbissenen, alten Frauen, die keine westlichen Sachen machen wollen, schwirrten ihnen durch den Kopf. "Dass wir auf so tolle, offene und moderne junge Frauen treffen würden, hatten wir uns überhaupt nicht erhofft." Von Anfang an habe die Chemie gestimmt. "Ich hab meine Schnittmuster und Stoffe ausgebreitet, dann war alles klar und wir konnten loslegen." Nur die Sprache sei manchmal noch ein Hindernis. "Klar, fährt man da auch mal was gegen die Wand, hat plötzlich einen schwarzen statt einen weißen Kragen." Dann müsse man eben nochmal ran.
In der Schneiderei hängt eine Tafel, "berufstätig" steht dort, einer der ehrenamtlichen Deutschlehrer hat es angeschrieben, ein wichtiges Wort für die jungen Frauen. "Wir wollen ein modernes Frauenbild vermitteln", sagt Nicole, "wir können in Deutschland frei wählen, wie wir leben wollen - Unternehmerin sein, freiberuflich arbeiten. Natürlich muss man es nicht so machen, aber man kann."
Wie es ist, der eigene Chef zu sein, weiß die studierte Modedesignerin Iman M. Khatbi, 39, die in Aleppo ein Atelier mit vierzig Schneiderinnen besaß. "Oft haben bei uns die Männer das Sagen", sagt sie und erhebt die Stimme, "aber bei mir im Unternehmen, war ich das." Imam war erst drei Monate in Deutschland, als sie bei Stitch by Stitch anfing. Nun hofft sie, dass das Unternehmen wächst, so wie ihres damals in Syrien. "Die Auftragsbücher sind voll", sagt Nicole. Sie seien sogar auf der Suche nach einer weiteren Schneiderin, "und irgendwann wollen wir unsere Idee vielleicht in andere Städte tragen."
Eine entspannte Arbeitsatmosphäre ist wichtig
Auch die junge Generation bekommt ihre Chance, so wie die Auszubildende Mansoureh Kazimi, 25, die in Teheran aufgewachsen ist. Sie floh mit Mann und Sohn zunächst in die Türkei. "Dort arbeitete ich in einer Kleiderfabrik, im Akkord, durfte nicht reden." Das sei hier ganz anders. Claudia nickt, "wir prügeln hier ganz sicherlich niemanden acht Stunden durch den Arbeitstag." Eine entspannte Arbeitsatmosphäre ist den beiden Gründerinnen wichtig. Durchschnittlich zehn Aufträge kommen jeden Monat rein, mal sollen Prototypen, mal ganze Kollektionen angefertigt werden. Gerade nähen sie Vintage-Kleider für das Label Death by Dress, Jacken für Claudias Label Coco Lores und Taschen aus Korkleder für das junge Frankfurter Label frisch Beutel.
Claudia zeigt auf einen überstehenden Rand an einem Stück Kork, aus dem Mal eine Handtasche werden soll. "Den musst du noch abschneiden", sagt sie zu Mansoureh, "wenn wir das Stück später einnähen, muss alles auf einer Höhe sein. Verstehst du, was ich meine?" Die Auszubildende nickt und zeigt ihrer Chefin, wie sie die Teile nachher zusammennäht. "Achso, dann sieht man es ja sowieso nicht", sagt Claudia und lacht. Problem gelöst.
Doch nicht alle Probleme lassen sich so leicht lösen. Vor allem die Bürokratie macht den Frauen zu schaffen. Vornamen werden mit Nachnamen verwechselt, Geburtstage falsch notiert, "das zieht sich dann durch alle Dokumente", sagt Nicole. Der ganze Papierkram, die ständigen Telefonate und zahllosen Arzt- und Behördenbesuche seien wahre Zeit- und Nervenfresser.
Umso wichtiger sei der Austausch am Mittagstisch, das Zusammensein, die gemeinsamen Gespräche. Manchmal bestellen sie beim Syrer um die Ecke. "Wer will anrufen?", fragt Nicole. Auf betretenes Schweigen folgt Gekicher. Anrufe auf Deutsch sind für die Frauen ein Graus. Am Ende nimmt Reyhane ihren Mut zusammen. Mit leiser Stimme gibt sie ihre Bestellung auf und lächelt hinter vorgehaltener Hand als sie auflegt. Die anderen applaudieren.
Später sitzen sie alle gemeinsam am ausgezogenen Holztisch in der Küche, essen Falafel im Brot und zum Nachtisch Karottenkuchen. Die Frauen kennen sich noch nicht lange, trotzdem teilen sie erste Erinnerungen. "Wisst ihr noch, als Mansoureh auf der Weihnachtsfeier den Kindersekt probiert hat?", fragt Claudia, "ihr Gesicht!". Ein unvergesslicher Abend sei das gewesen, ausgelassen hätten sie zwischen Nähmaschinen und Stoffrollen getanzt – zu arabischer Rapmusik und den Wheater Girls.
Lachen erfüllt die Küche. Der Geräuschpegel ist hoch, die Frauen plaudern über die Ateliers, Produkte und Modenschauen ihrer Träume. Doch die ersten Schritte in ihre maßgeschneiderte Zukunft, da sind sich alle einig, die gehen sie gemeinsam.