Wenn Handelsschiffe ein Boot in Seenot sichten, sind sie zur Rettung verpflichtet. So legt es das Internationale Seerecht fest. 2016 haben Fracht- und Containerschiffe Schätzungen zufolge weit mehr als 150.000 Menschen aus dem Mittelmeer gerettet. Das sind mehr als Frontex und alle Hilfsorganisationen zusammen. "Die Seeleute werden zur Flüchtlingsrettung vergewaltigt und das ist eine Sauerei", sagt Schildhauer. Der 59-Jährige hat diese krasse Ausdrucksweise bewusst gewählt. Er will, dass endlich bekannt wird, was Seeleuten heute bei der Ausübung ihres Berufs stillschweigend zugemutet wird. "Was die Politik nicht hinkriegt, dürfen die Männer auf den Schiffen ausbaden", sagt er bitter. "Handelsschiffe sind nicht für die Flüchtlingsrettung auf hoher See ausgerüstet. Rettungswesten, Lebensmittel, Wasser, auch die sanitären Einrichtungen sind auf eine Besatzung von rund 20 Leuten ausgelegt, nicht aber auf hunderte, ausgezehrte Menschen, die gerade dem Tod entronnen sind."
Schildhauer leitet zusammen mit seiner Frau Karin Streicher seit zweieinhalb Jahren das Deutsche Seemannsheim in Alexandria. Seeleute haben sie nur selten zu Gast. Seit 2011 sind kaum 40 Männer in der kleinen Villa im Stadtzentrum vorbeigekommen. Seit Beginn des Arabischen Frühlings vor sechs Jahren hat der ägyptische Staat die Regelungen für den Landgang drastisch verschärft. Ohne vorher beantragtes Visum läuft da für viele Nationen gar nichts mehr. Die Terrorangst tut das Ihre. In Alexandria geht jedenfalls kaum ein Seemann mehr an Land.
Auf ihrer Fahrt durchs Mittelmeer haben viele von ihnen Schreckliches erlebt. Sie mussten mit ansehen, wie Männer, Frauen und Kinder an der Gewalt des Meeres scheitern oder – fast noch schlimmer – an der glatten, viele Meter hohen Bordwand der Frachter und Containerschiffe. Die Rettung war zum Greifen nahe, die Kraft aber reichte nicht mehr. Oder die nicht mehr navigierbaren Kähne kentern, weil alle zuerst an Bord des rettenden Schiffes wollen und das Boot umkippt. "Die Wenigsten können schwimmen und im kalten Wasser kann keiner lange durchhalten", sagt Schildhauer. "Die Seeleute müssen dann hilflos zusehen, wie diese Menschen ertrinken."
Schildhauer geht regelmäßig in den Hafen. Im Jahr hätten mindestens hundert Schiffe, die in Alexandria anlegen, direkten Flüchtlingskontakt auf dem Meer, schätzt er und erzählt vom letzten Heiligen Abend. Da war er auf ein Schiff gegangen, um mit der Mannschaft einen Gottesdienst zu feiern. "Sie hatten kurz vorher hundert Menschen ertrinken sehen. Wie soll man da noch Weihnachten feiern?" Immer wieder höre er auch Geschichten vom Zuspätkommen. "Dann sehen die Seeleute nur noch Rucksäcke oder Überreste eines alten Schiffs im Wasser treiben und wissen, dass sie jetzt über Leichen fahren." Auch die Angst, so etwas erleben zu müssen, treibe viele Seeleute um. "Mir hat neulich erst ein Seemann erzählt, dass er tagsüber am liebsten unter Deck bleibt, um sich vor solchen Bildern zu schützen", sagt Schildhauer. Je länger er über das Thema spricht, desto wütender wird er. "Wir lassen die Seeleute, die häufig selbst aus Entwicklungsländern kommen, allein."
Weder Politiker noch die Reeder kümmern sich darum, was den Männern auf ihren Schiffen im Mittelmeer abverlangt wird. Das zeigt der Fall eines deutschen Kapitäns, der auf hoher See vom Zentralen Maritimen Rettungszentrum in Rom angefunkt wurde, dass unweit von seinem Schiff ein Flüchtlingsboot in Seenot geraten sei. Der Kapitän hielt kurz Rücksprache mit seiner Reederei in Deutschland. Der Umweg von drei Stunden hätte 100.000 Euro gekostet, Geld, das nicht mehr reinkommt. Er solle weiterfahren. Am nächsten Tag erfuhr der Kapitän, dass dieses Boot mit 400 Leuten untergegangen war. "Der macht sich jetzt bis an sein Lebensende Vorwürfe, dass er für den Tod dieser Menschen verantwortlich ist", sagt Schildhauer. "Hätte er sich über die Anweisung seines Reeders hinweggesetzt, hätte ihn das den Job gekostet. Die Frage ist, was mehr wiegt. Aber warum eigentlich muss ein Kapitän sich eine solche Frage überhaupt stellen?"
"Viele haben große Angst davor, in die Situation zu kommen, dass sie Flüchtlinge bergen müssen"
Um dieses Thema mehr in die Öffentlichkeit zu bringen, hat Schildhauer zusammen mit der Deutschen Seemannsmission beschlossen, Ende März das 55-jährige Jubiläum der Station Alexandria zu feiern. Ein krummes Datum, zumal sich die 55 Jahre nicht auf das Bestehen der Station beziehen – die gibt es schon ein paar Jahre länger – sondern vielmehr auf den Einzug der Seemannsmission in die Villa mit dem schönen Garten. Doch das Fest sollte weniger dem gegenseitigen Schulterklopfen dienen als vielmehr Aufmerksamkeit schaffen für ein Thema, das Wirtschaft und Politik geflissentlich ausblenden.
Der Einladung waren viele aus Deutschland und Ägypten gefolgt. Auch Heike Proske, die Generalsekretärin der Deutschen Seemannsmission. Sie hat an ihrem Dienstsitz in Bremen immer wieder mit Seeleuten zu tun, die von dem, was sie auf dem Mittelmeer gesehen haben, so traumatisiert sind, dass sie nicht mehr auf einem Schiff arbeiten können. "Das kann bis zur Berufsunfähigkeit gehen", sagt sie. Weil das Thema mittlerweile so große Ausmaße angenommen hat, hat die Deutsche Seemannsmission für alle ihre 33 Stationen im In- und Ausland Fortbildungen organisiert. "Nicht immer äußert sich ein Trauma sofort im nächsten Hafen. Manchmal merken die Seeleute erst, wenn sie wieder daheim sind, dass sie nicht mehr können", sagt Proske.
Auch mit den Reedern sucht die Deutsche Seemannsmission den Kontakt. Mit einer Reederei hat sie vor ein paar Monaten erst ein Sicherheitsseminar zur Flüchtlingsrettung organisiert. "Viele haben große Angst davor, in die Situation zu kommen, dass sie Flüchtlinge bergen müssen, auch weil sie Angst haben, sich dabei schlimme Krankheiten zuzuziehen", sagt Proske. "Wir klären dann auf, dass nicht jeder Flüchtling infektiös sein muss und dass sie bei der Bergung auch Ganzkörperschutzanzüge und Mundschutz anziehen können." Besonders hilfreich sei bei dem Seminar gewesen, dass ein rumänischer Kapitän von seinen Erfahrungen berichten konnte. "Er hat bereits zwei Mal Flüchtlinge an Bord nehmen müssen. Einmal waren es 250 und das andere Mal 800."
Doch die Perspektive der Seeleute ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere ist das Schicksal der Flüchtlinge. Das wollen Schildhauer und seine Frau nicht ausblenden. So auch nicht bei den Jubiläumsfeierlichkeiten im großen Garten hinter dem Seemannheim. Deswegen hatten sie zusammen mit dem Goethe-Institut den Theaterregisseur Jens-Erwin Siemssen aus Schiffdorf bei Bremen eingeladen. Dieser war schon zwei Wochen vorher gekommen und hatte mit ägyptischen Schauspielern ein Stück zum Thema Flucht übers Meer erarbeitet. An dem lauen Abend Ende März rückten sie in Szenen über Mütter, die ihre Kinder in Bombentrümmern suchen, über Familien, die ihre Liebsten zu Grabe tragen und über verzweifelte Menschen auf einem kenternden Boot das Leid der Flüchtlinge in den Mittelpunkt.
Doch auch darüber hinaus ist die Flüchtlingskatastrophe auf dem Mittelmeer im Seemannsheim in Alexandria immer präsent. Gleich im Eingang des Hauses hängt ein schlichtes, krummes Holzkreuz – ein sogenanntes Lampedusa-Kreuz. Ein Schreiner auf der italienischen Mittelmeerinsel hat vor einiger Zeit begonnen, aus den kaputten Planken von gekenterten Flüchtlingsbooten Kreuze zu basteln – als Mahnmal für diese verdrängte Tragödie. Eines dieser Kreuze hat seinen Weg nach Alexandria gefunden. Die Hafenstadt gehört zu den Ausgangspunkten der sogenannten Mittelmeerroute für Flüchtlinge aus Afrika, Syrien Afghanistan und anderen Krisenländern. Wer weiß, vielleicht ist das Holz des Kreuzes nur wieder an seinen Ursprungsort zurückgekehrt und stammt von einem Flüchtlingsboot, auf dem sich einmal Menschen von der ägyptischen Küste aus in Richtung Europa aufgemacht haben. Ob sie ihr Ziel lebend erreicht haben?