Foto: epd-bild/Norbert Neetz
Predigt zur Fastenaktion "7 Wochen Ohne Sofort"
Der ZDF-Gottesdienst aus der Gethsemanegemeinde in Frankfurt Main hat am Sonntag die Fastenaktion "7 Wochen Ohne" eröffnet. Hier lesen Sie die Predigt von Regionalbischöfin Susanne Breit-Keßler. Es gilt das gesprochene Wort.

Liebe Gemeinde!
"Business as usual" ist eine weit verbreitete Maxime. Winston Churchill hat sie formuliert, als der erste Weltkrieg ausgebrochen war. Weitermachen wie bisher und das gleich. Nicht lange aufhalten mit irgendwelchem Lamento. Sofort wieder funktionieren, egal was passiert ist. Das kann sinnvoll sein, wenn man dadurch in schwierigen Zeiten aufrecht bleibt und nicht in Verzweiflung oder Resignation versinkt. Wenn einen sonst der Kummer so niederdrückt, dass man erstarrt und handlungsunfähig wird. Im Kleinen kennen wir das ja auch: Wer einen Autounfall hatte, soll sich bald wieder hinters Steuer setzen, damit die Angst einen nicht hindert, weiterzufahren.

Die Männer, die Jesus um Hilfe angerufen haben, haben nicht nur einen kleinen Crash gehabt. Sie hat es nicht bloß kurz auf den Allerwertesten gesetzt. Die Aussätzigen sind jahrelang krank gewesen, ausgeschlossen von allen gesellschaftlichen Aktivitäten. Sie wurden ewig dumm angeredet. Dann aber kommt da einer, der hilft. Der fackelt nicht lange, dieser Jesus und macht sie gesund. Sofort. Was liegt näher, als sich sofort wieder ins Leben zu stürzen, endlich wieder business as usual zu praktizieren? Das ist doch wirklich mehr als verständlich... Wir sollten uns hüten, die zehn, oder besser die neun sofort abzuurteilen.

Augenblick mal! Eines der Lieblingskommandos meiner Eltern war: "Aber zackig!" Wenn ich pubertär-widerständig maulte "gleeeiiiiiich" kam postwendend die Antwort: "Nicht gleich, sondern sofort." Das geht einem in Fleisch und Blut über. Wird bei den Aussätzigen nicht viel anders gewesen sein. Sie werden sich gedacht haben: "Nichts wie ran ans Leben, an die Arbeit. Und hinein ins Vergnügen!" Lange genug haben sie darauf gewartet, wieder dabei zu sein. Doch einer trödelt herum. Bei ihm ist es nichts mit sofort.

Augenblick mal! Er schaut sich an und sieht, dass ihm nichts mehr fehlt. Du meine Güte! Mir geht es gut! Und er nimmt sich die Zeit, läuft zurück, lobt Gott aus vollem Halse. Er wirft sich vor Jesus auf den Boden und sagt: "Danke!" Dieser eine pfeift auf das business as usual, er will nicht sofort in den Alltag zurück, den er doch so lange herbei gesehnt hatte. Er möchte nicht gleich wieder zur Tagesordnung übergehen und eingespurt werden. Dieser eine kostet sein Glück voll aus. Juhu, ich bin gesund. Mein Leben hat sich geändert. Herrlich! Was für ein Segen...

Es ist doch so: Um überhaupt zu merken, wie beschenkt, wie selig man ist, muss man sich richtig Zeit nehmen. Also abends nicht den Tag sofort abhaken und vor dem Einschlafen im Geiste schon die Termine von morgen durchgehen. Sondern - "Augenblick mal!"- innehalten. Wofür kann ich heute dankbar sein? Was war schön und gelungen an diesem Tag meines Lebens? Wenn ich mir die Zeit nehme, um dankbar zu sein, um meinem Glück nachzuspüren, um den Duft der Seligkeit zu atmen, dann merke ich, was alles gut ist. Und starre nicht immer bloß missvergnügt auf das, was nicht oder noch nicht so toll ist.

Augenblick mal - mit gepflegten Momenten der Dankbarkeit beuge ich übrigens auch dem gefürchteten Burnout vor. Ich ziehe Kraft aus dem Bewusstsein, dass mir von Gott viel geschenkt ist, jeden Tag. Von all dem ist nichts selbstverständlich. Wir leben aus Voraussetzungen, die wir nicht selber schaffen können…

"Wer innehält, der merkt: Der Heilige Geist lässt sich nicht hetzen"

Es kann sein, dass jemand von Ihnen, liebe Gemeinde, solch eine Freude derzeit nicht empfindet. Es gibt ja immer wieder elend schwierige Zeiten im Leben, die einem den Boden unter den Füßen wegziehen. Wenn es einem schlecht geht, ist es genauso sinnvoll wie in Freudenzeiten, nicht gleich zur Tagesordnung überzugehen. Auch der Schmerz, der Kummer, das Leid - sie brauchen viel Raum. Ich verstehe, wenn nach Anschlägen, die wir derzeit so viele erleben, Durchhalteparolen laut werden. Es ist richtig, sich von Terroristen oder Amokläufern nicht in die Knie zwingen zu lassen. Business as usual hilft dabei.

Aber anders als sie sind wir wahrhaft menschlich, weil und wenn wir auf Freude oder Leid nicht sofort wieder Alltag folgen lassen. Anders als sie pflegen wir die Humanität, weil und wenn wir uns Zeit nehmen für überschäumenden Dank oder herzzerreißende Trauer. Es ist in Gottes Namen unendlich wichtig, Menschen anzusehen, um zu wissen, wie es Ihnen geht - und damit uns selbst. Augenblick mal. Das bringen wir fertig, wenn wir uns darin einüben, nicht immer alles sofort anzugehen oder hinter uns zu lassen. Natürlich muss Vieles gleich gemacht werden. Notwendige und unangenehme Arbeiten ewig aufzuschieben, kann einen in mancherlei Kalamitäten bringen.

Aber nachzudenken, sich mit anderen zu bedenken, abzuwarten, sich mit anderem zu beschäftigen, ist gut und wichtig. Wer innehält, der merkt: Der Heilige Geist lässt sich nicht hetzen. Manchmal will er, dass wir uns und anderen einen Augenblick gönnen: Einen des Nachdenkens, des Schweigens, des Hörens oder des Fragens.

Autor:in
Susanne Breit-Keßler
Susanne Breit-Keßler

Susanne Breit-Keßler war viele Jahre lang feste Autorin für chrismon, vor allem mit ihren Kolumnen "Im Vertrauen" und "Mahlzeit". Bis 2019 war sie Regionalbischöfin des evangelischen Kirchenkreises München-Oberbayern. Ihre journalistische Ausbildung absolvierte sie bei der Süddeutschen Zeitung und beim Bayerischen Rundfunk. Mehrere Jahre sprach sie "Das Wort zum Sonntag" in der ARD.

Augenblick mal – wer nicht alles sofort macht, nicht immer stante pede reagiert, der ist ein zufriedenerer Mensch, der andere obendrein froh macht. Warum? Weil so jemand sorgsam überlegt und mit Bedacht entscheidet. Augenblick mal. Denn kritisch wird es, wenn alles nur noch sofort passieren soll.

"Ich habe Ihnen vor einer halben Stunde eine Mail geschickt. Noch keine Antwort. Was ist los?" "Sie haben seit letzter Woche für unsere Anlagen nicht mehr Kunden geworben! Das muss anders werden – aber ein bisschen plötzlich!" Jede Schwierigkeit, und sei sie noch so komplex, soll im Handumdrehen gelöst werden. Alexander der Große, der den Gordischen Knoten mit einem Hieb auseinander gehauen hat, wird zum Vorbild. So sehen Sieger aus: Gleich draufhauen, nicht lange pusseln.

In Wahrheit braucht es viel Feingefühl und Klugheit, um Verwicklungen in der Familie, in Beruf oder Politik auseinander zu dröseln. Augenblick mal. Es braucht Geduld und Bedachtsamkeit. In Bewerbungsgesprächen werden Menschen oft gefragt, was ihre größte Schwäche ist. "Meine Ungeduld" wird dann oft gesagt - mit einem sehr selbstbewussten Unterton. Der Subtext lautet nämlich: "Ich bin fix, ich bin schnell. Bei mir bleibt nichts liegen! Ich mache alles immer sofort." Wie oft habe ich selber eine Mail oder SMS geschrieben und war gottfroh, wenn ich sie nicht gleich abgeschickt, sondern erst mal liegen gelassen und mir eine Nacht zum drüber schlafen genommen habe.

"Verweile doch, du bist so schön"

Puhhh... Am nächsten Tag sah die Sache nämlich ganz anders aus - und ich konnte wesentlich vernünftiger und sachlicher schreiben. Wenn man auf alles immer blitzartig reagiert, bleibt das Denken oft genug aus. Ein Artikel in der Zeitung, der Kommentar im Fernsehen oder ein Beitrag auf Twitter und Facebook passen einem nicht? Da wird nicht mehr nachgedacht und überlegt, sondern sofort draufgeklatscht! Her mit dem Shitstorm! Kein sachliches Argument, keine faire, anständige Diskussion. Kein Anstand und kein Respekt. Es geht volles Rohr auf das Gegenüber - der andere Mensch wird auf die übelste Art und Weise niedergemacht.

Augenblick mal. Jesus erlaubt sich sogar ein klein wenig Ironie, als der eine Geheilte zu ihm zurückkehrt. Waren es nicht zehn Aussätzige, fragt er, als ob er es nicht genau wüsste. Wo sind sie abgeblieben? Und dann wendet er sich dem einen zu, der zu ihm kommt. Der führt ein sinnvolles Leben. "Dein Glaube hat dir geholfen". Der Glaube, dass Gott unsere Zeit in seinen Händen hält und alles auch seine Zeit hat. Deswegen: Augenblick mal. Für was brauche ich eigentlich wieviel Zeit? Es ist gut und heilsam, sich genau zu überlegen, was gleich getan werden muss und bei welchen Dingen man besser mal gelassen und geduldig abwartet, damit etwas wachsen und gedeihen kann.

Natürlich ist es herrlich und befreiend, spontan und emotional zu reagieren. Dann wieder, Augenblick mal, ist es entscheidend, in aller Ruhe nachzudenken, sich zu besinnen. Der eine Geheilte ist ein echter Lebenskünstler. Er geht verschiedene Schritte, die auch wir in dieser Fastenzeit gehen wollen. Als erstes weiß er, dass er für sein Leben, dass er für sich und für Gott Zeit braucht. Er nimmt sie sich. Nix business as usual. Erst dann wird er in einem zweiten Schritt entscheiden, was weiter zu tun ist. Was wird er machen – beruflich, privat? Was ist dran nach dieser vollkommen Wendung in seinem Leben? Der Mann schiebt nichts auf, werkelt auch nicht drauf los, sondern sagt genau genommen zum Augenblick "verweile doch, du bist so schön...".

"Der Bissen im Mund schmeckt köstlicher, wenn man ihn im Mund bewegt und schmeckt"

Wie wunderbar ist es, zu spüren, dass die Zukunft vor mir liegt. Dass ich etwas anfangen darf mit meinem Dasein. Nichts überstürzen, Augenblick mal…. Der Gute könnte sich ja sorgen, dass er zu kurz kommt, weil er sich erst mal Zeit nimmt, um den Moment der Heilung und des Dankes auszukosten. Vielleicht sind die anderen vor ihm am Buffet? Im Gespräch? Geben als erste Interviews? Ach, sollen sie doch. Er ist bei ganz bei sich und bei Gott. Zeit lassen. Die anderen haben sich gleich ins Leben gestürzt – ja, er doch auch.

Nur anders. Sein "Sofort" besteht darin, den Augenblick hochzuschätzen, ihn sein zu lassen und in ihm zu bleiben – und nicht gleich zum nächsten Programmpunkt zu jagen, den neuesten Kick zu erleben. Sofort einschlafen, sofort eine bessere Freundin sein, sofort glücklich oder erfolgreich werden – alle diese Buch-Zeitschriften und Internet-Tipps sind für den Eimer, weil, unsere Altvorderen wussten es, gut Ding Weile haben muss. Neun der zehn Männer kehren scheinbar fidel ins Leben zurück. Aber nur der eine feiert sein Leben wirklich. Tiefsinnig, gelassen. Er hält die Zeit an, damit sie ihm nicht unter den Fingern zerrinnt.

Ab und zu langsam zu tun, das macht das Erleben inniger, intensiver, haltbarer. So, wie der Bissen im Mund köstlicher schmeckt, wenn man ihn im Mund bewegt und schmeckt. Wie der Kuss oder die Umarmung am Morgen zärtlicher ist, wenn man sie zelebriert. Das ganze Leben ist länger, gleich wie lange es dauert, wenn man den Moment, den Augenblick Gottes zu dehnen und zu genießen weiß. Amen.

Es gilt das gesprochene Wort.

Diese Predigt wurde am 5. März 2017 im ZDF-Gottesdienst aus der Gethsemanegemeinde in Frankfurt am Main live vorgetragen.